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Schildkröten können sprechen
Aus Wissenschaftsmagazin vom 04.05.2024. Bild: IMAGO / Pond5 Images
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Talking Turtles Junger Forscher entdeckt: Schildkröten können sprechen

Schildkröten galten bis vor kurzem als weitgehend stumme Wesen. Dann lauschte ein junger Forscher der Universität Zürich mit speziellen Unterwassermikrophonen ihren Gesprächen – und schrieb damit ein evolutionsbiologisches Kapitel neu.

Sein Schlüsselerlebnis hatte Gabriel Jorgewich Cohen im Amazonas: Andere Forschende erzählten ihm von Wasserschildkröten, die angeblich Geräusche machten. Dann hörte er es selbst: das feine Zirpen frisch geschlüpfter Schildkrötchen, die sich aus dem Nest gruben. 

Gabriel Jorgewich Cohen

Gabriel Jorgewich Cohen

Biologe

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Gabriel Jorgewich Cohen (33) stammt aus Brasilien. Für seine Schildkröten-Studien wird er mit dem Prix Schläfli 2024 der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften ausgezeichnet, für die beste Dissertation in Biologie.

Aktuell arbeitet der Biologe als Postdoktorand am Paläontologischen Institut der Universität Zürich. Nachdem er bewiesen hat, dass Schildkröten akustisch kommunizieren, will er nun die Bedeutung solcher Laute untersuchen. Sein Studienobjekt ist die Arrauschildkröte Podocnemis expansa – die grösste Süsswasserschildkröte Südamerikas. Es waren die Babys dieser Wasserschildkröte, die Jorgewich Cohen erstmals im Amazonas zirpen hörte – und die seine Forschung in Gang gebracht habe. 

Foto: Basil Minder

Der junge Biologe fand das erstaunlich. Denn Schildkröten galten bis anhin als lautlose Wesen. Einzige Ausnahme ist die Paarung: Die Seychellen-Riesenschildkröten zum Beispiel, die auf den gleichnamigen Inseln im Indischen Ozean leben, begleiten ihr Liebesspiel mit eindrucksvollem Stöhnen.  

Vom Experiment im eigenen Aquarium zur Dissertation  

Zirpende Schildkrötenbabys, bei der Kopulation stöhnende Männchen. Jorgewich Cohen begann sich zu fragen: Waren Laute bei Schildkröten womöglich weiter verbreitet als bisher angenommen?

Zunächst war ich nicht sicher, ob ich mir das nur einbildete. Doch mit der Zeit wurde klar, dass die Tiere tatsächlich vokalisieren.
Autor: Gabriel Jorgewich Cohen Biologe

Zu Hause in Sao Paulo experimentierte er bei seinen eigenen Wasserschildkröten. Mit einem ausgeliehenen Unterwassermikrophon versuchte er, im Aquarium Töne einzufangen. Mit Erfolg. «Zunächst war ich nicht sicher, ob ich mir das nur einbildete. Doch mit der Zeit wurde klar, dass die Tiere tatsächlich vokalisieren.» So wie sämtliche Arten, die er später aufgenommen habe.  

2020 gewinnt der Biologe ein Stipendium und wird Doktorand in der Schweiz, am Paläontologischen Institut der Universität Zürich. Sein Plan ist, über die Evolution von Schildkröten zu promovieren. Eines Tages erzählt er seinem Betreuer von den Tonaufnahmen. Dieser findet das Projekt so spannend, dass er Jorgewich Cohen mit dem Bioakustiker Simon Townsend der Uni Zürich zusammenbringt. «So wurde die Bioakustik zum Hauptthema meiner Dissertation.» 

Die Evolutionsgeschichte auf den Kopf gestellt

Der junge Forscher reist in der Welt herum – Brasilien, Deutschland, Grossbritannien, Österreich –, um festzuhalten, wie Schildkröten tönen. Es entstehen Tonaufnahmen von 50 verschiedenen Schildkröten-Arten. Und die Erkenntnisse daraus haben es in sich, denn mit diesen stellt Jorgewich Cohen ein Puzzleteil der Evolutionsgeschichte auf den Kopf. 

Bislang galt: Die Fähigkeit, Laute zu äussern, hat sich bei Wirbeltieren – Vögeln, Amphibien, Säugetieren – unabhängig voneinander und nicht bei allen Gruppen entwickelt. Und zwar, weil sich Form und Empfindlichkeit des Gehörs unter den Wirbeltieren stark unterscheiden. 

Nahaufnahme einer Schildkröte mit geöffnetem Maul
Legende: Schildkröten galten bis anhin als stumm. Die Tonaufnahmen von 50 verschiedenen Schildkröten-Arten beweisen das Gegenteil. IMAGO / Pond5 Images

2020 erscheint eine Studie zur Vokalisierungsfähigkeit von 1800 Wirbeltierarten, die diese Lehrmeinung zu stützen scheint. Die Studie enthält einen grossen Datensatz aus der wissenschaftlichen Literatur, der die Tiere in vokale und nicht-vokale Arten einteilte. Jorgewich Cohen fällt auf, dass die Angaben zum Teil überholt sind: «Viele Arten wurden als nicht-vokal bezeichnet, die aber eigentlich vokal sind – wie eben die Schildkröten.» Als er die Studie mit seinen Schildkröten-Daten wiederholt, kommt er zu einem komplett anderen Resultat. Seine Studie im Fachblatt Nature Communications erregt einiges Aufsehen. 

Nämlich: Die akustische Kommunikation hat sich eben nicht mehrfach in verschiedenen Wirbeltiergruppen entwickelt. Sondern sie hat einen gemeinsamen evolutionsgeschichtlichen Ursprung, bei gemeinsamen Vorfahren, den sogenannten Choanata, die vor über 400 Millionen Jahren lebten.   

Wissenschaftsmagazin, 04.05.2024, 12:40 Uhr

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