«Jeden Morgen stehe ich um vier Uhr auf, ab sechs bin ich hier im Restaurant, trinke meinen Kaffee und lese die Zeitung», sagt ein Herr mit graumeliertem Haar in die Kamera, sichtlich stolz auf seine jahrelange Lokaltreue. Auf den ersten Blick wirkt diese Szene, die früh im Film auftaucht, nicht sehr anregend. Ein Dokumentarfilm über Männer, die morgens im Spunten Kaffee trinken und Zeitung lesen – das ist eine wenig prickelnde Vorlage, zumal dem Ort des Geschehens nur wenig exotisches Flair anhaftet: Es ist der Zürcher Hauptbahnhof.
Wenn das Wirtepaar die Eltern ersetzt
Aber das Schlüsselwort ist hier die Lokaltreue. Darum geht es in «Service inbegriffe»: um Stammbeizen, Stammtische und Stammkunden; um Ersatzfamilien und, in der Gestalt der bewirtenden Menschen, oft um Ersatzeltern. Die Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit: Auch die porträtierten Wirtinnen und Wirte sehen in ihrer regulären Kundschaft einen engen familiären Freundeskreis, den sie weit über die Speise- und Getränkekarte hinaus betreuen – auch seelisch.
Dass solche Betriebe zunehmend aus der Schweizer Landschaft verschwinden, ist so bekannt wie die Ursachen dafür: das Rauchverbot, die gesenkte Promillegrenze für motorisierte Kunden sowie die Tatsache, dass man es mit währschafter Hausmannskost ohne Spitzenkoch am Herd nur schwerlich in gastronomische oder touristische Publikationen schafft. Ausserdem kommen sich vorbeiziehende Gäste in solchen Betrieben vielfach vor wie Zaungäste an einer Privatveranstaltung.
Protagonisten sind keine blauäugigen Verlierer
Filmemacher Eric Bergkraut hat sich bewusst nach solchen Betrieben umgesehen, und er hat sie, ausgehend von der Zürcher Bahnhofshalle, in allen Ecken der Schweiz gefunden: in Fleurier im abgelegenen Val du Travers, im Tessiner Durchfahrtsort Biasca, sogar auf der Hundwiler Höhe im Appenzeller Hinterland, wo mit Marlies Schoch eine ehemalige Politikerin wirtet, die bis heute nationale Prominenz geniesst.
Das Schöne an Bergkrauts Film ist: Er stimmt nur ganz am Rande in das Lamento einer sterbenden Beizenkultur ein. Seine Protagonisten sind keine blauäugigen Verlierer, die den Wirtebetrieb unterschätzt haben und nun händeringend nach Subventionen oder einem Restauranttester rufen, bevor ein Schuldenberg sie erdrückt.
Vielmehr führen die Menschen in diesem Film bewusst intim gehaltene Betriebe, die einem lokalen, gemeinschaftlichen Bedürfnis entsprechen. Hier zählt nicht, ob der durchreisenden Geschäftsfrau die gereichte Flädlisuppe mundet, sondern ob Fritz, Hausi und Heiri wohlauf sind.
Auf ein Glas mit Peter Bichsel
«Service inbegriffe» ist in keiner Weise ein Werbespot für die vorgestellten Betriebe. Einige unter ihnen wären wohl personell überfordert bei einem plötzlichen Ansturm. Vielmehr bietet der Film einen Einblick in mehrere komplexe Mikrokosmen, die fast zu zerbrechlich scheinen, als dass man sie in ihrem Ablauf stören möchte.
Der Film endet in der Zürcher Bahnhofhalle, dort, wo er angefangen hat. Schriftsteller Peter Bichsel schaut auf ein Glas Rotwein vorbei. Die Passanten auf der anderen Seite der Glaswand sind in Eile. Nur wenige werden es jemals nach Fleurier oder Biasca schaffen. Das ist egal: Hätten sie Zeit zum Verweilen, stünde für sie auch hier am Zürcher Hauptbahnhof eine Ersatzfamilie bereit.