Ein Mann macht am Rande eines Hochhausdachs einen Salto, fällt fast, fängt sich jedoch in letzter Minute. Dieser Mann gehört zu den «21 Menschen mit dem meisten Glück» . Seine kleine Geschichte ist zu sehen in einem animierten Bild (Gif) im gleichnamigen Artikel auf «Buzzfeed».
Der Artikel ist typisch für die Plattform. Man nennt diese Artikel «Listikel» – es sind in der Tat Listen einzelner, animiert aufbereiteter Inhaltshappen. Wenn Sie sich jetzt fragen, ob man mit solchen Artikeln ein Multimillionen-Geschäft aufbauen kann, das den Journalismus verändert, dann ist die Antwort klar: Ja.
«Buzzfeed» ist Boulevard, weiterentwickelt für die Welt nach Facebook und Twitter. Geschichten, teils belanglos, teils etwas ernsthafter, werden so aufbereitet, dass sie möglichst oft weiter verbreitet werden über Facebook, Twitter und Co. Geschrieben in der Sprache des Internets – also visuell, bewegt und mit ganz wenig Text. Gegründet von Jonah Peretti, Mitgründer der jüngst auch in Deutschland gestarteten «Huffington Post», ist «Buzzfeed» eine der meistbesuchten Websites der Welt.
Am Anfang stand eine E-Mail
Wie bei den Tech-Startups aus Silicon Valley ist auch bei «Buzzfeed» die Gründungsgeschichte fast so wichtig wie die Idee, die dahinter steckt. 2001 hat sich «Buzzfeed»-Gründer Jonah Peretti auf der Website von Nike einen Scherz erlaubt: Mit der damals neuen Personalisierungsfunktion für Turnschuhe wollte er «Sweatshop» auf seinen Schuh schreiben lassen, in Anspielung auf die Arbeitsbedingungen in den Fabriken, in der der Schuh hergestellt wurde.
Nike lehnte ab, es folgte ein E-Mail-Verkehr, den Peretti dokumentierte und an einige seiner Freunde mailte. Die schickten die Mails weiter, bis Millionen sie gelesen hatten. Dieser E-Mail-Verkehr löste eine nationale Debatte über Arbeitsbedingungen aus, und Jonah Peretti wurde von der meist gesehenen Morgensendung des nationalen Fernsehens eingeladen. Dies war Perettis erster «viraler Hit».
Peretti hatte Blut geleckt und wollte den Erfolg wiederholen: Mit der persönlichen Website eines fiktiven Paares, das seine Toleranz gegenüber Schwarzen zur Schau stellen wollte. Er nannte die Website «Schwarze lieben uns» und zeigte, wie sich das Paar von seinen afroamerikanischen Freunden lobpreisen liess.
Neue Konkurrenten
Heute sind unzählige unter Perettis Leitung konzipierte virale Hits im Umlauf. Darunter auch die «Listikel» von «Buzzfeed». «Die 21 Menschen mit dem meisten Glück» ist nur einer davon. Sie starten auf der Webseite von «Buzzfeed» und finden, der Verbreitung über soziale Netzwerke sei Dank, ein noch viel grösseres Publikum. Diesen Verbreitungseffekt bezeichnet «Buzzfeed» mit dem Begriff «Social lift».
2006 gegründet und lange belächelt, beneiden Journalisten weltweit heute «Buzzfeeds» Fähigkeit, «Social News» zu produzieren. Fast jeder Verleger versucht, die Geschichten seiner Zeitung internetgerecht aufzubereiten, um ein Publikum zu erreichen, für das die wichtigste News-Site mittlerweile Twitter und nicht die Website einer Zeitung ist. Doch den traditionellen Medien gelingt dies lange nicht so gut wie den Internet-Startups, von denen «Buzzfeed» nur eines ist (siehe Kasten unten).
CNN lernt «Buzzfeed»
«Buzzfeed» will aber noch mehr. Vor einem Jahr hat Peretti angefangen, an der journalistischen Glaubwürdigkeit der Website zu arbeiten. Er hat renommierte Journalisten ins Boot geholt, die im Fernsehen als Kommentatoren auftreten, hin und wieder einen «Primeur» landen und auch über Politik und weitere ernsthafte Themen schreiben.
Während «Buzzfeed» früher kommunizierte, man biete Inhalt für «Gelangweilte bei der Arbeit», versucht man jetzt, sich als ernsthaftes Nachrichtenportal zu etablieren. «Die traditionellen Medien haben das junge Publikum aufgegeben», sagt «Buzzfeed»-Präsident Jon Steinberg kürzlich an einer Tagung. Und dieses Publikum hat nun «Buzzfeed» im Visier. Am selben Tag, an dem die «21 Menschen mit dem meisten Glück» online gingen, publizierte das Unternehmen auch ein Interview mit dem Vater des Abgeordneten Ted Cruz – Cruz hatte den Behördenstillstand in den USA mit zu verantworten – und eine Liste der «13 Dinge, die passierten, während Washington vom Behördenstillstand besessen war» .
Im Mai 2013 startete «Buzzfeed» zudem eine Zusammenarbeit mit CNN. Die «Buzzfeed»-Redaktoren bauen seither CNN-Videomaterial in einfach teilbare Happen in ihre «Listikel» ein, auf die Millionen klicken und sie dann teilen.
Peretti lässt zudem Studenten die Inhalte auf Deutsch und Spanisch übersetzen und baut eine Präsenz in England auf. «Buzzfeed» ist so zu einer der bekanntesten Websites geworden. Schaut man sich die Hitliste auf dem mobilen Internet an, liegt «Buzzfeed» sogar auf Platz fünf der meist besuchten Websites.
Die Notenbank-Chefin als Gif
Journalismus im Wandel
Der Aufstieg der Seite lässt viele traditionelle Journalisten die Nase rümpfen. Doch andere schauen hin, um zu lernen: «Was ‹Buzzfeed› macht, ist wahnsinnig interessant», sagt «Washington Post»-Mitarbeiterin Melissa Bell gegenüber SRF Kultur. Melissa Bell hat kürzlich die neue Plattform «Know More» für die «Washington Post» mitentwickelt, die ganz eindeutig einige Ideen der neuen Medienunternehmen aufweist.
Auf «Know More» werden Geschichten so aufbereitet, wie es sich das Facebook- und Twitter-Publikum zu wünschen scheint. «Wir präsentieren unsere Geschichten in dieser ‹Meme-Sprache›, die online so gut funktioniert», sagt Bell. Wer sich «Know More» ansieht, versteht, was sie meint: Grosse Bilder in einem Raster, darunter knackige Schlagzeilen: «Das ist das neue Gesicht der amerikanischen Geldpolitik», ist eines der Bilder überschrieben. Das Bild zeigt Janet Yellen, die neue Chefin der US-Notenbank, in einem animierten Gif. Unter ihrem Bild gibt es drei Links: Zwei sind Teil-Funktionen für Facebook und Twitter, der dritte ist mit «Know More» angeschrieben. Ein Klick darauf bringt den Leser zu einem Artikel von «Washington Post»-Politikexpertin Ezra Klein.
Beim Design haben die Entwickler von «Know More» einiges von der Blogging-Plattform Tumblr abgeschaut, die Schlagzeilen erinnern an «Upworthy» und das Konzept an «Buzzfeed». Grossartiger Journalismus, unterteilt in einzelne, internetgerechte Happen.
Was nicht funktioniert, fliegt
Bei der Wahl der Inhalte lässt sich «Buzzfeed» von den Nutzerdaten leiten. «Das wollen wir auch stärker machen», sagte «Washington Post»-Redaktor Ezra Klein kürzlich in einem Interview. «In Zukunft wollen wir A/B-Tests machen», sagte er. Dabei werden dem Leser verschiedene Versionen von Artikeln gezeigt. Dieser zeigt durch seine Wahl, welche ihm besser gefällt.
«Buzzfeed» geht hier längst weiter: So könnten aus den «21 Menschen mit dem meisten Glück der Welt» bald «17 Menschen mit dem meisten Glück der Welt» werden, denn «Buzzfeed» behält immer im Auge, wie oft Inhalte geteilt werden. «Wir schauen uns in Echtzeit an, welcher der «Happen» am meisten geteilt wird, und streichen die, die keine «Shares» erhalten haben, also nicht geteilt wurden», erklärt Jack Shepherd, einer der Chefredaktoren bei «Buzzfeed».
Was nicht funktioniert, fliegt. Relevanz spielt bei diesen Entscheidungen keine Rolle – hier funktioniert «Buzzfeed» ganz wie der klassische Boulevard-Journalismus.