«Unten in der Strassenzeile türmen sich Schuttberge, sind Laternen- und Strassenbahnmasten umgebrochen, ist das Pflaster aufgesprengt, sind die Schienen aufgerissen, hängt die Oberleitung herab, sind die Geschäfte nur leere, ausgeraubte Höhlen, irren verzweifelte, hungrige, müde, heimatlose Menschen, taumeln Soldaten mit stumpfen Mienen und glanzlosen Augen zu den Sammelstellen, gellen die Schreie der vergewaltigten Frauen aus den Häusern.»
Vergessener Könner
Wer so schreibt, beweist: Er ist ein Könner. Umso erstaunlicher ist es, dass der 800 Seiten dicke Monumentalroman mit dem Titel «Finale Berlin», dem dieses Zitat entstammt, in Vergessenheit geraten konnte. Ebenso wie sein Schöpfer, der 1906 in Berlin geborene und 1991 verstorbene deutsche Schriftsteller Heinz Rein.
Heinz Rein schrieb «Finale Berlin» binnen weniger Monate unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Erstauflage des Romans erfolgte 1947. 1980 wurde er ein zweites Mal aufgelegt. Und nun ein drittes Mal, pünktlich zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs.
Reportage des Untergangs
«Finale Berlin» ist ein Schmöker. Mit journalistischer Genauigkeit schildert Heinz Rein den Schrecken der letzten Wochen der Naziherrschaft in der deutschen Hauptstadt. Das Buch erzählt von den pausenlosen Bombenangriffen der Alliierten, von der verstörenden Kulisse, welche die zerbombte Stadt abgibt. Die verängstigte Bevölkerung drängt sich in Luftschutzbunkern. Hunger und Not sind allgegenwärtig. Ein sterbendes Pferd wird zur umkämpften Beute zwischen den Ausgemergelten, die sich ein Stück Fleisch sichern, bevor das Tier verendet ist.
Der äussere Zusammenbruch des NS-Regimes und der einst stolzen Hauptstadt geht einher mit der inneren Zerstörung der Menschen. Mitläufer, die sich vom Führer verführen liessen, erkennen, dass sie hinters Licht geführt worden sind. Es bleibt die seelische Leere. Bis zum bitteren Ende prasselt indessen die Propagandamaschinerie mit immer wahnwitzigeren Durchhalteparolen auf die Menschen nieder. Der Wahnwitz als Groteske.
Dokumentarisches Drama
Reins Buch ist ein Dokumentardrama, das einerseits mit den konventionellen Methoden des Spannungsaufbaus arbeitet, andererseits aber durch die realistische Schilderung der Wirklichkeit beim Leser eine grosse Betroffenheit entstehen lässt. Heinz Rein entwickelt das Panorama des Untergangs an der fiktiven Figur eines jungen Deserteurs, der in Berlin Gesinnungsgenossen findet. Sie helfen ihm unterzutauchen.
Deserteure leben äusserst gefährlich, ziehen doch fanatische SS-Männer durch die Strassen. Mit brutalster Skrupellosigkeit spüren sie Deserteure auf und versuchen all diejenigen dingfest zu machen, die den Kampf angeblich zu früh aufgegeben und sich damit als vermeintliche «Verräter an der grossen Sache» entpuppt haben. Man will sie an den Strassenlaternen baumeln sehen.
Heinz Rein ist zweifelsohne ein Meister des dramatischen Erzählens – allerdings mit einer Einschränkung: Das Buch enthält zahlreiche längliche Dialoge – etwa über die Anatomie des NS-Systems oder die bessere Zukunft nach dem Krieg. Diese Passagen wirken blutleer und erinnern mehr an politologische Seminare denn an Literatur. Der Verlag hat auf Kürzungen verzichtet. Der Leser muss sie durch Überschlagen der betreffenden Teile nun eben in eigener Regie vornehmen.
Das Video erschien zum ersten Mal bei 3sat «Kulturzeit». Für Mobilnutzer, die das Video nicht sehen: Hier geht's zum Film., Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen