Eine menstruierende Riesenfrau in Unterwäsche rennt durch eine Stadt, von Panik ergriffen, weil sie keinen Tampon hat. Dabei hinterlässt sie eine Spur der Zerstörung und Unmengen Menstruationsblut.
Diese Szene ist typisch für die kanadische Künstlerin Julie Doucet. Zumindest für die junge Julie Doucet, die in den 1990er-Jahren Independent Comics mit ihren unverblümten Geschichten prägte.
Kein Verlag, keine Zensur
Doucet erzählte persönliche Geschichten und kehrte ihr Innerstes – Körperflüssigkeiten inklusive – nach aussen.
Zu Beginn kopierte und verteilte Doucet ihre autobiografischen Comics selbst – ohne Verlag. Das kam ihr zugute. Sie konnte ihre wildesten Träume zu Papier bringen: «Ich zeichnete, was mir durch den Kopf ging. Es gab keine Zensur.»
Keine Zensur bedeutete: explizite Darstellungen von Geschlechtsteilen, zum Teil abgeschnitten und wieder angenäht. Und viel Sex, Tampons und Menstruationsblut.
So lebt eine Frau aus Fleisch und Blut
Es war nicht beabsichtigt, aber mit ihren Geschichten erweiterte Doucet das Comic-Universum um eine ungeschönte, weibliche Perspektive. «Dirty Plotte» nannte sie ihre erste Serie. Plotte ist ein franko-kanadisches Wort für Vagina oder Schlampe.
Doucet erzählte Geschichten über ihren Alltag, ihre Träume und ihre Ängste. Als Frau war sie darin nicht der unnahbare, vollbusige Männertraum, den man damals üblicherweise in Comics antraf. Sie war ein Mensch aus Fleisch, Blut und Unsicherheiten.
Der Erfolg kam unerwartet
Ab 1991 veröffentlichte Julie Doucet ihre Geschichten bei einem damals neu entstandenen Comic-Verlag und erreichte ein grösseres Publikum. Die Comics waren ein Erfolg, auch bei Frauen.
Das überraschte Doucet: «Ich war mir der Bedeutung meiner Arbeit nicht bewusst. Ich fühlte mich damals nicht sehr weiblich – mit dem herkömmlichen Frauenbild konnte ich mich nicht identifizieren. Ich rechnete nicht damit, dass sich andere Frauen in meinem Schaffen wiedererkennen könnten.»
Ausgelaugt und am Ende
In den Nullerjahren war Schluss. Julie Doucet hatte genug vom Comic-Zeichnen: «Es gab keinen Platz mehr Experimente. Ich fühlte mich ausgelaugt und wollte Neues probieren.»
Sie experimentierte, widmete sich Projekten, für die sie davor keine Zeit hatte. Sie arbeitete an Prints, Collagen und immer wieder mit Worten: «Ich habe schon immer mit Worten gearbeitet, auch in den Comics. Mir wurde klar, dass es in meiner Arbeit immer mehr um Wort und Text ging als um das Visuelle.»
Die Künstlerin bleibt frei
Vor zwei Jahren begann sie wieder zu zeichnen – als Reaktion auf den Angriff auf «Charlie Hebdo». Julie Doucet wollte aber nicht nahtlos dort ansetzen, wo sie fast 20 Jahre zuvor aufgehört hatte. Sie suchte einen neuen Ansatz finden, kaufte sich Anatomiebücher und begann Porträts zu zeichnen.
Rückblickend sei sie über ihren radikalen Bruch mit den Comics selbst überrascht, sagt Doucet. Ob sie je wieder Comic-Geschichten veröffentlicht, lässt sie offen: «Ich weiss es einfach noch nicht.»
Egal, was noch kommt. Julie Doucet sei glücklich mit ihrem Leben, mit dem, was sie erreicht hat: ein unabhängiges Leben als Künstlerin. «Dafür habe ich hart gearbeitet.»
Sendung: Kultur kompakt, 3. April 2017, 11.30 Uhr