Das Attentat auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» und die folgenden Geiselnahmen mit insgesamt 17 Todesopfern rücken die französischen Gefängnisse in den Fokus: Einer der Attentäter, Chérif Kouachi, und Geiselnehmer Amedy Coulibaly sollen sich während der Haft radikalisiert haben.
In Frankreich sind rund 30'000 Muslime inhaftiert, einige davon in Zusammenhang mit terroristischen Handlungen. Als erste Massnahme nach der Tragödie in Paris hat der französische Premierminister angekündigt, verdächtige muslimische Häftlinge in den Gefängnissen zu isolieren.
Auch in der Schweiz sind ein grosser Teil der Gefängnisinsassen Muslime. Mit ihnen spricht Sakib Halilovic. Der Imam arbeitet bei der Seelsorge in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, dem grössten geschlossenen Gefängnis der Schweiz.
SRF: Wieso besuchen Sie Häftlinge im Gefängnis Pöschwis?
Sakib Halilovic: Ich will den Alltag der Insassen erleichtern. Die Gefangenen wissen, dass ich als Seelsorger unter Schweigepflicht stehe. So bin ich für sie eine Vertrauensperson. Die Häftlinge öffnen mir ihre Seele und suchen Rat, in religiösen, familiären und persönlichen Belangen. Ich führe persönliche Gespräche, führe das Freitagsgebet und veranstalte Religionsunterricht. Jedes Jahr führen wir zusammen mit Kollegen anderer Konfessionen interreligiöse Gottesdienste. Das Feiern muslimischer Feste gehört auch zu unserer Arbeit.
Als Mitglied der Arbeitsgruppe des Bundes für die Aus- und Weiterbildung religiöser Betreuungspersonen setzen Sie sich für ein Imam-Studium ein. Warum ist dieses notwendig?
Wir arbeiten in der Arbeitsgruppe daran, in einem ersten Schritt Weiterbildungen anzubieten. Das längerfristige Ziel ist eine Imam-Ausbildung im Rahmen eines Hochschulstudiums. Die Imame sollen sich über die hiesige Kultur fundiert informieren können. Zudem möchten wir dem Nachwuchs die Möglichkeit geben, sich hier ausbilden zu lassen. Das liegt nicht nur im Interesse der Muslime. Möglichst gut und hierzulande ausgebildete Imame sind die beste Prävention gegen eine Radikalisierung.
Einer der Attentäter von Paris soll im Gefängnis radikalisiert worden sein. Wie schätzen Sie die Gefahr der Radikalisierung von Muslimen in Schweizer Gefängnissen ein?
In meiner Arbeit ist das kein Thema. In Pöschwies und meines Wissens auch in anderen Strafvollzugsanstalten funktioniert die Betreuung der muslimischen Häftlinge sehr gut. Die Gefahr einer Radikalisierung ist daher sehr gering. Natürlich: Niemand kann garantieren, dass nie jemand im Gefängnis radikalisiert wird. Ich habe aber noch nie von einem konkreten Fall gehört und ich hoffe, dass es so bleibt.
Haben Sie mit den Häftlingen über die Ereignisse in Paris gesprochen?
Letzten Freitag beim Freitagsgebet haben wir die Person des Propheten thematisiert: Er hat nie aufgrund von Beleidigungen oder Beschimpfungen getötet oder töten lassen. Indirekt habe ich so den Anschlag auf «Charlie Hebdo» thematisiert. Im kleineren Rahmen haben wir ebenfalls darüber gesprochen. Das Unverständnis über die Ereignisse ist gross, Zustimmung habe ich keine gehört. Ich verstehe, dass man Vertreter muslimischer Gemeinschaften danach fragt. Wir sind schliesslich Ansprechpartner in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Der ständige Rechtfertigungsdruck ist aber auch störend. Warum sollen wir uns von etwas distanzieren, wofür wir keine Schuld tragen? Wir haben es mit irrationalen Menschen zu tun. Ihre Taten sind mit der Vernunft nicht nachvollziehbar.
Dennoch: Die Karikatur des Propheten stellt für viele Muslime eine Beleidigung dar.
Die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Verletzung religiöser Gefühle ist schwierig zu definieren. Satire ist eine Kunstform. Um diese zu lesen und sich damit auseinanderzusetzen, braucht es Wissen. Auch im arabischen Raum gibt es religionskritische Satire. Diese wird aber hauptsächlich von den Bildungseliten wahrgenommen und geschätzt. Es sind mehr der soziale Hintergrund und das Bildungsniveau, die über die Reaktion auf solche Karikaturen entscheiden.