«Ich wurde in ein karges Elternhaus geboren. Mit etwa sechseinhalb Jahren wurde ich von der Behörde in Nidau in ein stattliches Bauernhaus im Seeland entführt. Ich erlebte dort während neun Jahren eine traurige Kindheit als Verdingkind. Der Tagesspruch klang als Morgengebet: ‹Du bisch nüt, du chasch nüt, us Dir git’s nüt!› Statt Geborgenheit Misshandlungen, Schläge mit Lederriemen, Klopfer, Seil oder Hosenträger, was gerade greifbar war, dazu angebunden, ausgeliefert, wehrlos.» Mit diesen Worten beschreibt Nelly Haueter ihr Martyrium als Verdingkind. Geschehen ist das in den 1930er Jahren. Haueter ist 2010 gestorben, im Alter von 88 Jahren.
Verarmung und Dauerelend
Haueters Erlebnisse sind eine traurige Realität. Im 19. und 20. Jahrhundert erlebten hunderttausende Verdingkinder das gleiche Schicksal. Sie wuchsen nicht bei ihren Eltern auf, mussten für ihren Lebensunterhalt bereits im Kindesalter arbeiten. «Grund dafür war die Verarmung oder das Dauerelend in den ländlichen Gebieten», erklärt Thomas Huonker. Ein Mann, der es wissen muss. Huonker ist freischaffender Historiker und beschäftigt sich unter anderem mit der Geschichte von Zwangsmassnahmen im Fürsorgebereich.
Gemäss dem Historiker gibt es das Verdingwesen schon sehr lange. Als Beispiel nennt er den Fall von Thomas Platter. Der spätere humanistische Gelehrte kam im Jahr 1499 im spätmittelalterlichen Grächen (VS) zur Welt. In seiner Jugend fristete er ein Dasein als Verdingkind. «Das Verdingwesen hat sich unverändert bis in die 1970er Jahre gehalten.» Bereits Platter habe sich über sein hartes Los als Verdingkind beklagt. «Auch spätere Kritikwellen blieben wirkungslos. Abgeschafft wurde dieses Statut erst nach der Mechanisierung der Schweizer Landwirtschaft», sagt Huonker zu «SRF News Online». Verdingkinder habe es landesweit gegeben – insbesondere im landwirtschaftlich geprägten Mitteland. So zum Beispiel im Entlebuch und Emmental. Aber auch in der Zentralschweiz, in den Kantonen Waadt, Fribourg, Thurgau, Tessin und Graubünden. Zudem sei das Verdingwesen in weiten Teilen Europas verbreitet gewesen.
«Wie an einem Markttag»
Häufig waren es Knechte oder Mägde, die selber uneheliche Kinder hatten. Sie konnten sich keinen eigenen Bauernhof leisten. Die Verarmten mussten die Kinder weggeben oder die Behörden nahmen sie ihnen weg. «So wurden daraus Verdingkinder und später wieder Knechte oder Verdingkinder», beschreibt Huonker den Teufelskreis der Armut. In den meisten Fällen sei die Fremdplatzierung seitens der Behörden veranlasst worden.
Häufig geschah die Fremdplatzierung in Form einer Versteigerung. «Es war wie an einem Markttag, man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie wohl auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück, fragte nach, pries an, gerade wie an einem Markt», schreibt Jeremias Gotthelf in seinem Erstlingswerk ‹Der Bauernspiegel›.
Im Zentrum stand das Kosten-Nutzen-Verhältnis. So wurden die Kinder nicht an den Meistbietenden abgegeben, sondern an jenen Bauern, der am wenigsten bot. Grund: Die Heimatgemeinde des Verdingkindes musste dem Bauern, der das Kind aufnahm, ein Kostgeld bezahlen. Arme Landgemeinden standen finanziell unter Druck. Die hohen Geburtenraten und die Pflicht der Gemeinden, für auswärts Verarmte aufzukommen, schlug zu Buche. So wollten die Gemeinden für Verdingkinder möglichst wenig bezahlen.
Der mindestbietende Bauer wollte die Arbeitskraft möglichst intensiv nutzen, um trotzdem Profit zu machen. «Bei der Kleidung wurde gespart. So waren Verdingkinder im Sommer häufig barfuss. Im Winter hatten sie alte halbzerfallene Schuhe oder Holzschuhe an», sagt Huonker. Häufig seien sie in ungeheizten Kammern oder im Stall bei den Tieren untergebracht worden. Zudem habe es immer wieder Konflikte wegen der Schule gegeben.
Profit auf Kosten der Schwächsten
«Da die Verdingkinder sehr viel und hart arbeiten mussten, blieb oft keine Zeit mehr für die Hausaufgaben.»
Reklamierten die Verdingkinder, drohten drakonische Strafen. Hinzu kamen sexuelle Übergriffe seitens der Pflege-Eltern, seitens der älteren Kinder der Familie oder durch anderes Personal des Betriebs.
Damit wird klar: Verdingkinder trugen einen wesentlichen Teil zum Überleben des Betriebs bei. Sie waren somit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Boulevardblatt «Blick» hat sich vom Chefökonomen einer Grossbank vorrechnen lassen, dass die Gratisarbeit der Kinder der Landwirtschaft zwischen 20 und 65 Milliarden Franken eingetragen hatte. Den 10'000 Betroffenen, die heute noch am Leben sind, würden demnach 1,2 Milliarden Franken zustehen.
Die Forderung seitens der Opfer steht im Raum. Ob tatsächlich Geld fliessen wird, ist unklar. Zwei parlamentarische Initiativen verlangen eine moralische Wiedergutmachung und die Lancierung eines nationalen Forschungsprogramms. Von einer materiellen Entschädigung ist bei den Parteien der politischen Rechten und bei der Mehrheit der Rechtskommission der Grossen Kammer aber keine Rede.