Auf der Internetseite der SP Schweiz heisst es zwar unverändert: «Auch wenn die SP mit dem aktuellen politischen Kurs der EU nicht immer einverstanden ist, erreicht die Schweiz mit einem EU-Beitritt volles Mitspracherecht statt automatischer Rechtsübernahme.» Wie eine Auswertung der Online-Wahlhilfe Smartvote, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen zeigt, lehnen jedoch seit 2003 immer mehr Kandidatinnen und Kandidaten der SP EU-Beitrittsverhandlungen ab.
Vor den Wahlen 2015 verbleibt noch eine knappe Mehrheit der SP-Kandidierenden, welche sich für Beitrittsverhandlungen ausspricht. Der Abwärtstrend bei der SP widerspiegelt die Entwicklung bei allen Parteien. Insgesamt lehnen zurzeit 84,2 Prozent der befragten Kandidierenden EU-Beitrittsverhandlungen in den nächsten vier Jahren ab. Davon antworteten 13,3 Prozent mit «eher Nein» und 70,9 Prozent mit «Nein».
Grafik EU-Beitrittsverhandlungen in den nächsten vier Jahren?
Bei den Kandidierenden der Grünen sind Beitrittsverhandlungen seit 2011 nicht mehr mehrheitsfähig. 2003 sprachen sich noch 87,6 Prozent dafür aus. Bei den Kandidierenden der GLP fand zwischen den Wahljahren 2007 und 2011 die stärkste Kehrtwende aller Parteien überhaupt statt: Die Zustimmung zu EU-Beitrittsverhandlungen sank in diesem Zeitraum um fast 40 Prozentpunkte.
Für den Politikwissenschaftler Michael Hermann zeigt die Auswertung von Smartvote die Langfristigkeit des Erosionsprozesses. Hermann spricht von einer «normativen Kraft des Faktischen», einer Anpassung an die Realität. Mit den bilateralen Verträge hätten idealistische Überzeugungen – beispielsweise der EU wegen ihres Verdienstes am Frieden beitreten zu wollen – an Bedeutung verloren.
Heute stünden konkrete Fragen wie jene der Zuwanderung oder der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt in der Beurteilung des Verhältnisses zur EU zuoberst auf der politischen Agenda.
Bilaterale Verträge als neue Verteidigungslinie
Die SP ist gemäss Hermann im Verlaufe der Nullerjahre immer stärker in eine «Rückfallposition» geraten: Die aktuell zu lösenden Konflikte im Verhältnis Schweiz-EU habe es für die Partei vordringlich gemacht, in erster Linie die bilateralen Verträge zu verteidigen. Der Handlungsspielraum sei zu eng geworden, um sich aktiv für grössere Weichenstellungen wie der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einzusetzen.
«Die bilateralen Verträge sind die neue Verteidigungslinie zwischen einer offenen und geschlossenen Schweiz», fasst der Politikwissenschaftler zusammen.
Alle ausser die SVP
Smartvote hat die Kandidaten auch die Gretchenfrage gestellt: Soll die strikte Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative Priorität vor dem Erhalt der Bilateralen haben? Hier zeigt sich: Die Verteidigung der bilateralen Abkommen ist ein parteiübergreifendes Anliegen. Einzig die Kandidierenden der SVP priorisieren mit deutlicher Mehrheit die strikte Umsetzung der parteieigenen Masseneinwanderungs-Initiative.
Grafik Masseneinwanderungsinitiative vor bilateralen Verträgen?
Für Michael Hermann überraschen die weitgehend einheitlichen Positionen innerhalb der Parteien zu dieser Frage nicht. Sie sei dermassen virulent und aktuell, dass man sich als Kandidat einer Partei kaum leisten könne, die offizielle Parteimeinung nicht zu teilen.
Das Stimmvolk hat das letzte Wort
Die Auswertung von Smartvote deutet darauf hin, dass die SVP in ihrem Bestreben, die Initiative strikte durchzusetzen, auf sich alleine gestellt sein wird. Auch wenn die Partei gemäss Wahlbarometer nach wie vor als wählerstärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen dürfte: Mangels absoluter Mehrheit wird sie eine strikte Umsetzung der Initiative im Parlament kaum durchsetzen können.
Umso mehr ist für Hermann klar, dass letztlich nicht etwa das Parlament, sondern die Stimmbevölkerung an der Urne für oder gegen die Erhaltung der bilateralen Verträge zu entscheiden hat – unabhängig davon, wie die nationalen Wahlen im Herbst ausgehen.
So wurde ausgewertet
Die Auswertungen beruhen auf den Antworten der Kandidierenden der Nationalratswahlen von 2003 bis 2015 bei der Online-Wahlhilfe Smartvote. 2011 haben rund 80 Prozent der Kandidierenden an der Befragung teilgenommen. 2015 liegt die Teilnahme bei rund 75 Prozent der über 3500 Kandidierenden (Stand: 27. August 2015). Für die Grafiken wurden «Ja»- und «Eher Ja»-Antworten ein Wert von 100 und «Nein»- und «Eher Nein»-Antworten ein Wert von 0 zugeteilt. Danach wurde die Zustimmung der Kandidierenden nach Parteien ermittelt. Je näher die so berechnete Zustimmung bei 100 liegt, umso stärker ist die Zustimmung zur entsprechenden Frage. |