Ich bin die ganze Nacht hindurch Strassenrennen gefahren. Auf der letzten Runde liege ich in Führung. Wir rasen durch Vinewood, eine Nachbildung von Hollywood. Die sonst so belebten Strassen sind menschenleer. Im Radio pulsiert harter Elektro, um die Konzentration hoch zu halten. Der Morgen wird licht, kurz vor Sonnenaufgang scheint fahles Licht auf den Asphalt. Ich kann die kühle Morgenluft förmlich riechen.
Nach einer erfolgreich absolvierten Mission fahre ich zurück zum Unterschlupf. Das Autoradio spielt den obskuren Titel «Ogdens' Nut Gone Flake» der Small Faces – eine Melodie, die wir schon aus dem ersten Trailer für «GTA V» kennen und die wir seither mit freudiger Erwartung, Aufbruch, Aufregung verbinden.
Es sind diese kleinen Momente, die «Grand Theft Auto V» so grossartig machen. Ein zufälliges Ereignis, eine Stimmung exakt getroffen. In diesem Moment fühlt sich Los Santos, ein Zerrbild von Los Angeles, lebendig und belebt an. Wir spielen nicht ein Spiel, sondern wir reisen in eine Welt und erkunden sie – selten ist diese Metapher zutreffender als hier.
«GTA V» ist ein Gigant. Es soll 250 Millionen Franken für Produktion und Marketing gekostet haben, eine Summe, die schon allein mit den Vorbestellungen wieder eingenommen war. Am ersten Tag 800 Millionen Dollar Umsatz, die Milliardengrenze in drei Tagen geknackt – es gibt nicht nur bei Games nichts Grösseres, sondern überhaupt in der ganzen Unterhaltungsindustrie. In einer immer stärker fragmentierten Populärkultur ist «GTA V» damit etwas Seltenes: Ein gemeinsam erlebter Moment, etwas, das wir alle teilen.
Michael, Trevor, Franklin
Wir verfolgen die Geschichte dreier Hauptfiguren: Michael, der Bankräuber im Ruhestand, inklusive Familie und Midlife Crisis; Trevor, Psychopath und ehemaliger Kumpel von Michael mit offener Rechnung; und der junge Franklin, der den Gangs und der Hood entkommen will, um eine Profi-Verbrecherkarriere zu starten statt im Drogenkrieg auf der Strecke zu bleiben.
In den Story-Missionen kontrolliert meist das Spiel, welche Figur wir kontrollieren. Meistens sagt es uns, mit welcher Figur wir was tun sollen, und setzt diesen Perspektivenwechsel geschickt als dramaturgisches Element ein. Dazwischen können wir dann aber frei wählen und mit Michael Golf spielen, mit Franklin Autos klauen, mit Trevor jagen.
Kern der Geschichte sind immer waghalsigere Raubüberfälle. Zurückkehren aus dem Ruhestand um das letzte grosse Ding zu drehen: Das ist jetzt nicht gerade eine sonderlich originelle Geschichte. Die Hauptfigur des Vorgängers «GTA IV» war Niko Bellic, ein serbischer Immigrant mit Rachegelüsten, und das fand ich eigentlich interessanter. Doch die Dynamik des neuen Trios untereinander ist spannend; und die Raubüberfälle geben der Geschichte eine sehr klare Struktur. Im Gegensatz zu Nikos Geschichte mäandert diese weniger wirr in der Gegend herum.
Fahren, reden, schiessen
Mechanisch hat sich nicht viel geändert, die Grundstruktur ist gleich geblieben. Wir fahren an einen bestimmten Ort, um eine Mission zu starten. Dann fahren wir an einen anderen Ort, um da auf Leute zu schiessen. Dabei hören wir der Unterhaltung der Figuren zu. Damit das nicht langweilig wird, wechseln Schauplätze und Fahr- und Flugzeuge. Im Gegensatz zum eher etwas zurückhaltenderen Vorgänger dreht «GTA V» den Wahnsinn gleich auf Rechtsanschlag – ohne Zweifel nach dem Geschmack der Fans der Serie.
Einige Verbesserungen haben grosse Auswirkungen und gehen auf wesentliche Kritikpunkte an der Serie ein: Die Missionen haben nun engmaschig gesetzte Checkpoints; nach einem Scheitern müssen wir also nie mehr lange Abschnitte wiederholen. Über ein Menu können wir jede bestandene Mission bequem noch einmal wiederholen. Und Fahren, die Tätigkeit im Spiel, die am meisten Zeit einnimmt, fühlt sich nun deutlich besser an als in früheren Versionen – mehr nach Auto als nach Boot.
Karikatur Kaliforniens
Doch der eigentliche Reiz des Spiels geht von seiner Welt aus. San Andreas und Los Santos sind Karikaturen von Kalifornien und Los Angeles. Es ist schlicht atemberaubend, was Hersteller Rockstar hier geschaffen hat. Kein Haus gleicht dem anderen; statt überall die gleiche Betontextur hinzuklatschen, haben hier Heerscharen von Designern Schilder, architektonische Details, Figuren gebastelt – in einem unglaublichen Umfang.
Und Rockstar will, dass wir diese Welt entdecken und geniessen. Im Gegensatz zu vielen Spielen, die uns per Knopfdruck an beliebige Stellen transportieren lassen, zwingt uns «GTA V» oft, lange Distanzen zurückzulegen. Wenn eine Mission am anderen Ende der Karte anfängt, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als da hin zu fahren. «GTA V» traut sich, uns diese langen Reisen zuzumuten – und belohnt uns dafür mit einer Welt, die an jeder Ecke eine Überraschung bereithält.
Was wir sehen, können wir tun
Und so ist der Tennisplatz nicht einfach Kulisse. Nein, wir können darauf Tennis spielen. Als die Kamera zu Beginn des Spiels im Vorspann über Vespucci Beach fliegt und wir auf dem Pier ein Riesenrad und eine Achterbahn sehen, wissen wir, dass wir die benutzen können. Das ist das Versprechen von «GTA V»: eine voll realisierte Welt; was wir sehen, können wir tun.
Grenzen der Interaktion
Natürlich wird dieses Versprechen nicht immer eingelöst. Auch Rockstar stösst an Grenzen. In einem Rundumschlag kritisiert dies Leigh Alexander im Game-Blog Gamasutra, als eher einsame Stimme im allgemeinen Begeisterungsgeheul. Denn unsere grundlegenden Interaktionsmöglichkeiten sind beschränkt; selten können wir mehr tun als fahren oder schiessen. So ist gerade der soziale Umgang unserer Figuren stark limitiert. Zwischen den Missionen sind sie meist allein, geradezu einsam. Beim Vorgänger hat die Fangemeinde Nikos nervigen Cousin Roman noch verspottet, weil er ständig anrief und Bowling spielen gehen wollte. Hier vermisse ich ihn plötzlich. Denn er verlieh Niko eine private, menschliche Dimension, die dem neuen Trio etwas fehlt.
Die offene Welt und die völlige Handlungsfreiheit bleibt also eine Illusion, die so lange aufrecht erhalten wird, wie wir nicht gezielt in die Löcher fingern.
Die Brüder Dan und Sam Houser, die Köpfe hinter Rockstar und der GTA-Serie, betonen in Interviews gern, wie sie mit ihren Geschichten Hollywood herausfordern, dass sie in diesem interaktiven Medium die grösseren, besseren Abenteuer erzählen können. Doch wenn das der Massstab ist, dann fällt «GTA V» flach. Ja, ich mag die Geschichten, die durchgeknallten Missionen. Aber diese Figuren sind komplett absurd. Sie wechseln laufend abrupt die Tonalität. Sie fällen halsbrecherische Entscheidungen, nur um mehr Action servieren zu können.
Nichts Subtiles
Die Beziehung von Michael und Trevor pendelt wirr zwischen «Best Buddies 4EVA» und «Das durchgeknallte Monster wird uns noch alle umbringen» hin und her. Warum Michael Franklin unter die Fittiche nimmt, ist klar. Er vermisst seinen alten Lifestyle und er hätte gern einen Sohn, den er respektieren kann. Aber warum Franklin beim Auftauchen von Trevor nicht sofort das Weite sucht, sondern sich im Gegenteil mit ihm anfreudet, ist nicht nachvollziehbar. Mit seinem Cousin Lamar hat er gerade eben einen unkontrollierbaren Gewalttätigen abgeschüttelt: Warum sollte er sich auf den offensichtlich noch viel schlimmeren Psychopathen einlassen?
Zu solchen Ungereimtheiten gesellen sich Wortspiele auf zuverlässig tiefem Niveau und der Umstand, dass es im ganzen Spiel keine einzige gute Frauenrolle gibt.
Und so wirkt es fast etwas peinlich, wenn das Spiel mit offensichtlichen Anspielungen auf «Sopranos» (Michaels erste Szene ist bei seinem Psychiater) oder «Breaking Bad» (Trevor verdient sein Geld mit dem Kochen von Meth) seinen Stellenwert in der Populärkultur zu reklamieren versucht. Während diese TV-Serien glaubwürdige, komplexe Figuren zeichnen, ist in «GTA V» nichts subtil. Der billige Witz ist immer wichtiger als die differenzierte Charakterisierung.
«GTA V» ist eine Verdichtung unserer Welt, bei der alle Zwischentöne gestrichen sind und eine zynische, deprimierende Überzeichnung bleibt. In San Andreas sind die meisten dumm und gierig, alle korrupt und alle gehen über Leichen. Das ist Satire mit dem Vorschlaghammer.
Erzwungene Folter
Einen inhaltlichen Tiefpunkt erreicht das Spiel in der auch in breiteren Medien diskutierten Folterszene. Darin foltert Trevor auf Geheiss des «FIB» einen Gefangenen, um Information aus ihm herauszupressen. Die brutale Szene hat zwei Funktionen: Sie soll uns zeigen, dass Trevor ein Monster ist; und dass die amerikanische Regierung ebenfalls keine Hemmungen hat, das Mittel der Folter einzusetzen. Zu dem Zeitpunkt der Szene ist uns das allerdings beides schon lange klar. Trevor wird schon in seiner allerersten Szene als durchgeknallter Psychopath eingeführt. Auch das FIB hat zuvor mehrere Gelegenheiten, die eigene Skrupellosigkeit zu beweisen. Inhaltlich braucht es die Szene nicht.
Dazu schauen wir uns die nicht nur an, sondern wir werden gezwungen mitzutun. Wir müssen Knöpfe drücken, um das Opfer mit Elektroschocks oder Waterboarding zu foltern. Ich habe mich dabei missbraucht gefühlt. Es bleibt schleierhaft, was der Erkenntnisgewinn dieser Interaktion sein soll. Das Folter schlimm ist, wusste ich schon; die erzwungende Simulation virtueller Folter ändert daran nichts.
Gezielte Provokation
Nein, die Szene hat einen viel profaneren Grund: Es ist das bewusst provozierte Mini-Skandälchen, das Rockstar liebt und das zu jedem «GTA» gehört. Die Medien nehmen die Steilvorlage dankend auf, weil sie Aufreger mögen: Nachdem man staunend über den Mega-Event berichtet hat, kommt die Möglichkeit, auch etwas Kritisches zu schreiben, nur gelegen. Und die ohnehin besorgten Nicht-Spieler können sich angenehm angewidert abwenden und sich in ihrer Haltung bestätigt sehen, dass diese Spiele gefährlich seien.
Rockstar umgekehrt weiss, dass genau diese Provokation bei den Fans gut ankommt: Denn die finden Spass darin, wenn sich die ewig Besorgten aufregen und damit exakt das tun, was Rockstar wollte: dem rebellischen Image auf den Leim kriechen.
Das ist natürlich zynisch, und das Spiel wäre besser gewesen ohne diese Szene. Aber es sind einige Minuten, die für mein Erlebnis mit dem Spiel, bis jetzt vierzig Stunden, fast völlig irrelevant sind.
Zwangsläufig widersprüchlich, kein Problem
Genau das ist die Stärke des Mediums: Ein Film würde widersprüchliche, holzschnitt-artige Charakterisierungen, simple Geschichten oder dumme Szenen nicht ungeschoren überstehen. Ein Spiel wie «GTA V» steckt das stattdessen einfach weg. Denn wenn wir nicht die Geschichte verfolgen, tun wir Dinge, die mit den Figuren ohnehin wenig zu tun haben. Trevor beispielsweise sah total affig aus in seinem Björn-Borg-Stirnband und würde nie im Leben Tennis spielen gehen. Doch ich fuhr mit ihm an diesem Tennisplatz vorbei und wollte das ausprobieren. Das ist zwangsläufig widersprüchlich.
So mag die dargestellte Welt zynisch und hässlich sein – wir ignorieren dies aber laufend. Und erleben so in einer eigenartigen Schizophrenie Leichtigkeit und Freude.
«GTA V» ist natürlich nicht das Beste, was Games je sein können – auch wenn wir es von dem Behemoth irgendwie erwarten. Aber es bringt halt eben doch genau die Kernstärke von Games auf den Punkt: Es ist eine Bühne, auf der wir unsere Rolle spielen, manchmal mit, manchmal gegen die Regie. Es ist eine modellierte Welt, deren Regeln und Grenzen wir entdecken. Es ist so umfangreich, dass wir immer wissen, dass es da hinter diesem Hügel oder ein paar Strassen weiter noch mehr zu erleben gäbe.
Grossartige Illusion
Und so kann ich nicht aufhören, «Grand Theft Auto V» zu spielen. Ich weiss, dass es eine Illusion ist: Es ist keine echte Machtfantasie, ich habe keine echte Handlungsfreiheit, ich erwerbe keine echte Kompetenz. Aber ich geniesse es, diese riesige Welt zu erkunden.
Sonnenaufgänge bestaunen. Passanten belauschen. Strassenschilder lesen. Einfach nur umherfahren und zu «Radio Los Santos» kopfnicken.
«Grand Theft Auto V» ist für Xbox360 und Playstation 3. Es ist ab 18.