«Ich hatte wahnsinnig Angst», sagt K.J. «Mein Arzt hat mich beruhigt und gesagt, es sei eine Routineoperation». Die Spitex-Mitarbeiterin litt unter starken Rückenschmerzen. Im Januar 2015 liess sie sich am Kantonsspital Winterthur eine Diskushernie operieren.
Eine Routineoperation
Eineinhalb Jahre nach dem Eingriff hat K.J. einen künstlichen Darmausgang. Ihre Blase muss sie mehrmals täglich mit einem Katheter entleeren, in der Nacht trägt die 52-Jährige Windeln. Für kurze Distanzen braucht sie Stöcke, für längere Wege den Rollstuhl.
Sie leidet unter starken chronischen Rückenschmerzen, kann nicht mehr arbeiten und bekommt seit kurzem eine IV-Rente. Nicht alle Kosten, die ihr durch die operationsbedingte Behinderung entstehen, sind dadurch gedeckt.
«Ich spürte meinen Unterleib nicht»
Doch das Spital lehnt jede Haftung ab, was die Patientin bis heute nicht verstehen kann. Bereits in der Nacht nach dem Eingriff merkte Frau J. das etwas nicht stimmte: «Ich habe meinen Unterleib nicht gespürt». Ausserdem hatte sie keine Kontrolle mehr über Blase und Darm.
Wie K.J. im Nachhinein erfuhr, stand neben ihrem behandelnden Arzt auch ein Assistenzarzt am Operationstisch. Er verletzte mit der Knochenfräse die harte Hirnhaut (Fortsetzung der Hirnhaut am Rückenmark) und wahrscheinlich auch ihre Rückennerven.
«Nach der Operation kamen die beiden Ärzte vorbei und sagten, es täte ihnen leid, es sei zu einer Komplikation gekommen», erinnert sich Frau J. Sie wurde mit einer inkompletten Querschnittslähmung nach Nottwil ins Paraplegikerzentrum gebracht. «Nach der Entlassung aber habe ich nie mehr etwas vom Spital gehört, nichts.» Für Frau J. eine zusätzliche Verletzung.
Spital lehnt Haftung ab: Komplikationen nicht ausgeschlossen
In den letzten 16 Jahren sei es bei rund 10‘000 vergleichbaren Eingriffen zweimal zu einer vergleichbar schweren Komplikation gekommen, schreibt das Kantonsspital in einer Stellungnahme. Einmal bei Frau J. Eine Haftung lehnt das Kantonsspital Winterthur ab.
Die Komplikationen von Frau J. seien leider bei einem solchen Eingriff nicht ganz auszuschliessen, schreibt das Spital in einer Stellungnahme an «Kassensturz». Zwei von der Patientin beauftragte Experten seien zum Schluss gekommen, dass das KSW korrekt vorgegangen sei.
Haftpflichtversicherung des Kantonsspitals ist die Zürich-Versicherung. Sie sieht in diesem gravierenden Fall «keine haftungsbegründende Sorgfaltspflichtverletzung». Das «Kompetenzzentrum Körperschäden Ost» der Versicherung bezeichnet die Operationsverletzung gegenüber der Schweizerischen Stiftung Patientenschutz als «schicksalshaft».
Patientenorganisation will Gutachten
Margrit Kessler – Präsidentin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz – widerspricht: «Wenn man mit der Fräse die Rückenmarkshaut verletzt und zusätzlich die Nervenbündel auch noch verletzt, dann ist meiner Ansicht nach unsorgfältig gearbeitet worden.» Die SPO gibt nun beim Ärzte-Dachverband FMH ein Gutachten in Auftrag.
Öffentlichkeit zahlt für Ärztefehler
Für Margrit Kessler ist die Situation im Schadenfall generell unbefriedigend: «Wenn eine Haftpflichtversicherung sich weigert, für den Schaden aufzukommen, dann müssen wir das als Gesellschaft über die Sozialleistungen zahlen.» Die Prämien- und Steuerzahler würden mehrfach zur Kasse gebeten: «Wir zahlen einerseits die teuren Haftpflichtprämien der öffentlichen Spitäler, andererseits die Sozialleistungen für behinderte Menschen.»
Ein Spital zahlt nur, wenn es einen Fehler gemacht hat. Aber für Patienten ist es oftmals schwierig, Ärzten eine Verletzung ihrer Sorgfaltspflicht nachzuweisen. Eine Rückenoperation sei ein anspruchsvoller Eingriff, deshalb gelte ein hohes Mass an Sorgfalt, erklärt Rechtsprofessor Ueli Kieser.
«Wenn diese Vorsicht irgendwo verletzt ist, dann ist es ein Fehler, dann müsste die Spitalhaftpflicht den Schaden zahlen.» Doch im Schadenfall liegt die Beweispflicht bei den Patienten. Kieser weiss aus langjähriger Erfahrung als Patientenanwalt: «Um einen Fehler nachweisen zu können, braucht es die Offenheit des Spitals, doch die ist nicht immer gegeben.»
Es fehlt eine Fehlerkultur
Service
Seit der Operation ist K.J. regelmässig in Nottwil beim Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Behandlung. Zwei- bis dreimal pro Jahr sieht Direktor Hans Peter Gmünder Operationsverletzungen der Rückennerven. Er fordert eine offene Fehlerkultur: «Die muss in jeder Klinik vorhanden sein, nur dann können wir aus Fehlern lernen und unsere Arbeit in Zukunft besser machen.»
Ganz wichtig sei Transparenz aber auch gegenüber den Patienten. «Das Allerwichtigste ist in solchen Situationen Ehrlichkeit», sagt Gmünder, «der Arzt sollte genau erklären, was passiert ist. Auf diese Weise können Patienten ihre Situation besser akzeptieren.»
K.J. stellt sich jeden Tag den Herausforderungen ihres neuen Leben als gelähmte, inkontinente Frau. Aber etwas kann sie nicht verstehen: «Ich bin zu Fuss ins Spital und kam im Rollstuhl wieder heraus. Und trotzdem hat anscheinend niemand einen Fehler gemacht.»