An vielen Schweizer Universitäten protestieren Studierende derzeit für die Palästinenserinnen und Palästinenser und gegen das Vorgehen Israels im Nahen Osten. Ihre Forderung sind vielfältig – ebenso die Vorwürfe und Behauptungen gegenüber Israel. Die Rede ist von Genozid, Kriegsverbrechen und einem Apartheidstaat. Das wirft Fragen auf – in und ausserhalb der Universitätsmauern. Was steckt hinter den Slogans und Begriffen? Und was daran ist völkerrechtlich gerechtfertigt? Experten ordnen die Vorwürfe ein.
Vorwurf: Völkermord in Gaza
Im Gazastreifen finde derzeit ein Genozid, also ein Völkermord statt, kritisieren viele Studierende an den Protestkundgebungen. Aus Sicht dreier Völkerrechtler trifft dies eher nicht zu.
Es gebe zwar Tathandlungen – wie etwa Töten oder Verhungernlassen –, doch wohl nicht mit der besonderen Absicht, eine ethnische Gruppe auslöschen zu wollen, sagt Marco Sassoli, Professor für Völkerrecht an der Universität Genf. «Gewisse Erklärungen israelischer Politiker waren genozidär». Es sei von Ausrottung die Rede gewesen. «Aber die Handlungen der israelischen Armee sind meines Erachtens gegen die Hamas gerichtet und nicht gegen die ganze Bevölkerung», erklärt Sassoli.
Dem stimmen auch Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich, sowie Stefan Talmon, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn, zu. «Im Völkerrecht brauchen sie für den Völkermord eine Tathandlung, die unter anderem das Töten von Mitgliedern einer Gruppe einschliesst», führt Talmon aus. Das liege unzweifelhaft vor. Diese Tathandlung müsse mit Vorsatz erfolgen. Und als Drittes: «Das Besondere am Völkermord ist, dass Sie zusätzlich noch eine Zerstörungsabsicht brauchen.»
Diese Zerstörungsabsicht sei sehr schwer festzustellen, dafür bräuchte man konkrete Beweise, zum Beispiel einen schriftlichen Befehl wie dazumal bei Srebrenica. «All diese Handlungen müssen vorgenommen werden mit der speziellen Absicht, die Gruppe der Palästinenser im Gazastreifen zu zerstören. Das sehe ich nicht», sagt Talmon. Die Hamas habe in ihrer Charta andererseits ausdrücklich festgestellt, dass sie die Juden in Israel vernichten möchte.
«Der Internationale Gerichtshof hat im Fall Südafrika gegen Israel mit 15 gegen 1 Stimmen gefunden, dass die Gefahr besteht, dass genozidäre Handlungen begangen werden könnten und hat vorsorgliche Massnahmen ergriffen – hat das aber noch nicht endgültig entschieden», sagt Sassoli.
«Um die Aussagen von gewissen Mitgliedern der israelischen Regierung klar zu deuten, bräuchte es wirklich fundierte strafrechtliche Abklärungen», ergänzt Diggelmann. Er glaube nicht, dass der internationale Gerichtshof im Verfahren Südafrika gegen Israel eine generationelle Genozidabsicht feststellen werde, so Diggelmann.
Vorwurf: Kriegsverbrechen verübt
Im Gazastreifen würden Tausende Zivilistinnen und Zivilisten getötet, Schulen und Spitäler zerstört und die Versorgung mit überlebenswichtigen Hilfsgütern blockiert, so die Kritik vieler Studierender an Pro-Palästina-Demonstrationen. Da würden Kriegsverbrechen verübt, so der Vorwurf. «Staaten können keine Kriegsverbrechen begehen, Staaten begehen Verletzungen des humanitären Völkerrechts», erklärt Völkerrechtsprofessor Sassoli. «Das Verhindern von Hilfsgüterzufuhr zum Gazastreifen, die Schliessung aller Zugänge am Anfang des Krieges, die Verweigerung des Wassers und der Elektrizität», das seien eindeutig Verletzungen des humanitären Völkerrechts, so Sassoli.
Die anderen Völkerrechtler stimmen dem zu. Internationales Recht werde allerdings auf beiden Seiten verletzt. Der Angriff am 7. Oktober, das wahllose Töten von Zivilisten, sei offensichtlich eine Verletzung des humanitären Völkerrechts.
«Es wird ja immer wieder auch angeführt, dass die Bombardierung eines Spitals ein Kriegsverbrechen darstellt», so Stefan Talmon. «Das lässt sich aber nicht so allgemein aufrechterhalten, da müsse jeder Einzelfall beurteilt werden. Auch zivile Objekte können legitime militärische Ziele werden, wenn sie von der anderen Kriegspartei missbraucht werden – entweder als Stellungen, als Waffenlager oder als Rückzugsort», führt Talmon aus.
Marco Sassoli sieht das kritischer. «Die Angriffe gegen Hamas-Ziele können nicht in jedem Fall gegen so wichtige Ziele gerichtet sein, dass es rechtfertigen würde, in einer so dicht besetzten, bewohnten Gegend so viele Zivilpersonen zu töten.»
Vorwurf: Apartheidstaat Israel
Manche Vorwürfe gehen über den Gaza-Krieg hinaus und zielen grundsätzlich auf Israel ab. So etwa jener, Israel sei ein Apartheidstaat, also mit einem System der Rassentrennung. Während der eine Völkerrechtler dafür Anzeichen sieht, verneint ein anderer den Vorwurf.
In Südafrika habe es natürlich einen Apartheidstaat gegeben, sagt Oliver Diggelmann. Doch eine juristische Klärung sei schwierig, es gebe keine internationale Rechtssprechung. «Was man als Indizien für eine Unterwerfungsabsicht anführen kann, sind die Landbeschlagnahmung, die Diskriminierung bei der Landnutzung und der ungleiche Schutz durch Polizei und Militär.»
Beim Apartheidsregime in Südafrika sei von der «Unterwerfung von einer rassischen Gruppe durch die andere, die das Ziel verfolgt, die Unterwerfung aufrechtzuerhalten» die Rede gewesen, sagt Diggelmann. In diesem Fall handelte es sich aber um einen Konflikt zwischen Ethnien. Ob das gleich behandelt würde oder nicht, das könne heute niemand verlässlich sagen, so Diggelmann. Zudem müsse man auch an Israels Sicherheitsinteressen denken.
Stefan Talmon sagt: «Hier gibt es Strassen nur für Israelis und Strassen nur für Palästinenser. Aber was man auch mit berücksichtigen muss, ist, dass diese Strassen ja aus Sicherheitsgründen eingerichtet wurden. In Antwort darauf, dass sich palästinensische Selbstmordattentäter auf Verkehrswegen, die Israelis benutzt haben, in die Luft gesprengt haben.» Er sehe darum den Vorwurf der Apartheid nicht für gegeben, weil es andere Erklärungsmöglichkeiten für diese israelischen Handlungen gebe, als nur um ein rassistisch geprägtes Herrschaftssystem zu etablieren oder eine andere rassische Gruppe systematisch zu unterdrücken.