Vor 100 Jahren herrscht Revolutionsstimmung auf den Strassen Wiens: das Habsburgerreich liegt in Trümmern, Kaiser Karl verlässt Schloss Schönbrunn durch die Hintertür, revoltierende Soldaten sorgen für Angst und Schrecken.
Überall in «Deutsch-Österreich» bilden sich Arbeiter- und Soldatenräte. Ihr Ziel: eine Räteherrschaft nach sowjetisch-russischem Vorbild.
Ausruf der Republik am 12. November
Die Führer der österreichischen Sozialdemokratie wollen das Räte-Experiment verhindern. Sie fürchten einen blutigen Bürgerkrieg. Ihnen gelingt es, die Bewegung einzuhegen und die revolutionär gesinnte Arbeiterschaft auf die demokratische Republik einzuschwören.
Dann, am 12. November 1918, wird die «Republik Deutsch-Österreich» ausgerufen, wie sie damals noch heisst.
Die Linke auf dem Vormarsch
Zwei Jahre lang regieren Sozialdemokraten und Christlich-Soziale. In dieser Zeit gelingt es der demokratischen Linken, das Frauenwahlrecht durchzusetzen. Auch treten eine Reihe vorbildlicher Sozialgesetze in Kraft, die bis heute gelten.
Nach dem Ersten Weltkrieg muss die junge Republik massive Gebietsverluste und hohe Reparationszahlungen hinnehmen. Alle Parteien sehen sich nach einem «Anschluss» an Deutschland. Doch die Alliierten sagen Nein – sie verbieten die Annexion.
Dann herrscht Tumult, es fallen Schüsse: die 1920er- und frühen 30er-Jahre sind gekennzeichnet von Hyperinflation, schweren Wirtschaftskrisen und scharfen Auseinandersetzungen zwischen der marxistisch orientierten Sozialdemokratie und der Christlich-Sozialen Partei. Immer wieder führen sie zu blutigen Konflikten.
Ruck nach Rechts
Im März 1933 verschärft Bundeskanzler Engelbert Dollfuss seinen Kurs. Er schaltet das Parlament und den Verfassungsgerichtshof aus und führt die Pressezensur ein. Dollfuss – ein Freund Mussolinis – hat ein klares Ziel: eine Diktatur nach italienischem Vorbild.
Dollfuss spricht Klartext: «Die Zeit demagogischer Volksführung und absoluter Parteienherrschaft ist vorüber», sagt er in einer Rede auf dem Trabrennplatz.
«Wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung.»
Gegen die Dollfuss-Diktatur
Es kommt zum Bürgerkrieg: Sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter proben 1934 den bewaffneten Aufstand gegen die Dollfuss-Diktatur. Die Revolte wird vom Bundesheer niedergeschlagen. Das Resultat: hunderte Tote, tausende Verwundete.
Die Führer des Aufstands werden gehängt, inhaftiert oder gehen ins Exil. Die sozialdemokratische Partei wird in die Illegalität gedrängt.
Nazis am Mikrofon
Dollfuss steht aber auch von rechts unter Druck. Die Nationalsozialisten gewinnen nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland auch in Österreich immer mehr Zulauf.
Die österreichischen Nazis versuchen zu putschen. Sie stürmen das Kanzleramt in Wien: Dollfuss wird erschossen, ein SS-Trupp besetzt das Rundfunkgebäude in Wien und ruft zum bewaffneten Aufstand auf.
«Heim ins Reich»
Tagelang wird gekämpft. Wieder sterben hunderte, wieder wird der Aufstand von der austrofaschistischen Staatsgewalt niedergeschlagen. Kurt Schuschnigg übernimmt die Macht.
Er bleibt nicht lange. Im März 1938 löst ein skrupelloser Diktator einen schwachen ab. Schuschnigg macht Platz für Adolf Hitler. Hitler setzt den «Anschluss» durch, Österreich kehrt «heim ins Reich».
Die Begeisterung in Wien ist unbeschreiblich, als Hitler auf dem Balkon des Hotels Imperial spricht: «Meine deutschen Volksgenossen und – genossinnen, was immer auch kommen mag. Das Deutsche Reich, so wie es heute steht, wird niemand mehr zerbrechen!»
Das Ende des Satzes hört kaum jemand. Zu laut und frenetisch ist der Jubel.
Nach dem «Anschluss» bricht Hitler den opferreichsten Krieg der Menschheitsgeschichte vom Zaun. Zehntausende Österreicher machen sich mitschuldig an den Verbrechen der Nazis.
Manche gehen in den Widerstand. Die einstmals blühende jüdische Gemeinde Wiens – fast 200’000 Menschen – wird so gut wie ausgelöscht.
Ruck nach Links
Im Mai 1945 liegt das Land, wie halb Europa, in Trümmern. Wieder übernimmt eine grosse Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen die Regierung.
Die Führerinnen und Führer der beiden grossen politischen Lager sind gemeinsam im KZ gesessen – vor allem in Dachau. Sie sind entschlossen, Österreich im Geist der Zusammenarbeit wieder aufzubauen.
«Glaubt an dieses Österreich!»
Die Not im Land ist unbeschreiblich. «Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben», sagt Bundeskanzler Leopold Figl 1945 zu seinen Landsleuten.
«Ich kann euch für den Christbaum – wenn ihr überhaupt einen habt – keine Kerzen geben. Kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!»
Es ist eine der berühmtesten Radioansprachen der österreichischen Geschichte.
Unabhängig, neutral, frei
Nach zehnjähriger Besatzung ziehen die alliierten Soldaten aus Österreich ab. Anders als dem deutschen Nachbarn bleibt der kleinen «Alpenrepublik» die Teilung erspart.
Der Preis für die Unabhängigkeit? Österreich verpflichtet sich zur «immerwährenden Neutralität» nach Schweizer Muster.
In den Wirtschaftswunderjahren erlebt Österreich einen Aufschwung. Bei den Nationalratswahlen 1971 erobert der Sozialdemokrat Bruno Kreisky – Spross einer jüdischen Industriellenfamilie aus Wien – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine absolute Mandatsmehrheit.
«Die sozialistische Partei Österreichs hat den grössten Wahlsieg ihrer Geschichte errungen», sagt Kreisky.
Zwei Mal wiederholt Kreisky dieses Kunststück. Der volksnahe Staatsmann, ein brillanter Intellektueller und ausgefuchster Polit-Stratege, geht als roter «Sonnenkanzler» in die Geschichte Österreichs ein.
Rechter Polit-Rabauke
Dann mischt ein rechtspopulistischer Polit-Narziss die österreichische Innenpolitik auf. Jörg Haider, Sohn einer überzeugten NS-Familie, profiliert sich in den 1980er-Jahren mit markigen Sprüchen als eloquenter Polit-Rabauke.
Den französischen Präsidenten Jacques Chirac nennt Haider einen «Westentaschen-Napoleon des 21. Jahrhunderts». Über den österreichischen Sozialdemokraten Alfred Gusenbauer sagt er: «Der ist so begeistert vom Sowjet-Kommunismus, dass er sich das Essen mit Messer und Gabel abgewöhnt hat und mit Hammer und Sichel isst.»
Haider führt die rechtspopulistische FPÖ von Wahlerfolg zu Wahlerfolg.
Im Jahr 2000 führt Haider die FPÖ in eine Koalition mit der konservativen ÖVP. Rechtsradikale in der Regierung? Das sorgte damals europaweit für einen Sturm der Entrüstung.
Hunderttausende demonstrieren in Wien gegen die Regierung, die EU verhängt Sanktionen. Die Regierung hält sich dennoch sieben Jahre an der Macht, dann wird sie von einer neuerlichen Grossen Koalition abgelöst.
Im Oktober 2008 rast Jörg Haider mit seinem Dienstwagen als Kärntner Landeshauptmann – 1,8 Promille Alkohol im Blut – in den Tod.
Rechte in der Krise
Österreichs radikale Rechte ist zu dieser Zeit in einer schweren Krise. Nach einer Reihe von Wahlniederlagen führt der deutschnationale Burschenschafter Heinz-Christian Strache die FPÖ allmählich zu neuer Grösse zurück.
Die Nationalratswahlen im Oktober 2017 bringen eine dramatische Veränderung der Mehrheitsverhältnisse: Der 31-jährige ÖVP-Politiker Sebastian Kurz führt die Konservativen zu einem glanzvollen Wahlsieg – und dann auch gleich in eine Koalition mit Straches FPÖ.
Keine Proteste gegen rechts
Zusammen mit Sebastian Kurz übernehmen umstrittene FPÖ-Politiker wie Heinz-Christian Strache, Norbert Hofer oder Herbert Kickl wichtige Regierungsämter. Kickl etwa, ein scharfer Rechtspopulist, wird Innenminister und oberster Chef der österreichischen Polizei und ihrer Geheimdienste.
Im Gegensatz zum Jahr 2000 regten sich dagegen keine europäischen Proteste. Rechtspopulisten in wichtigen Regierungs-Positionen, das ist heute nicht aussergewöhnlich, sondern normal – in Österreich und anderen Ländern.