Tschechien ist eines der Länder Europas, das mit voller Wucht von der zweiten Welle des Coronavirus getroffen wird. In der letzten Oktobertagen wurden täglich rund 13'000 Neuansteckungen gemeldet. In manchen Regionen geraten die Spitäler an ihre Grenzen.
Im Vergleich dazu sind die Einschränkungen des persönlichen Bierkonsums (sämtliche Bars und Restaurants sind geschlossen, das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit ist verboten) natürlich ungleich weniger dramatisch – für Tschechinnen und Tschechen aber doch eine besondere Situation.
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš erklärt im Folgenden, was genau die Einschränkungen für seine Landsleute bedeuten.
Böhmisches Bierparadies
«Böhmisches Paradies. Český ráj. So heisst die Gegend im Nordosten der Tschechischen Republik, wo ich herkomme. Was sie wohl so paradiesisch macht? Vielleicht die schönen Schlösser, Burgen und Ruinen. Vielleicht die hügelige Landschaft mit Teichen und Wäldern und Felsen.
Doch vielleicht auch das Bier. Die Brauereien. Und die Kneipen. Denn in jedem noch so kleinen Dorf findet man hier ein gutes Wirtshaus, wo man perfekt gezapftes Bier serviert bekommt.
Keine Gasthäuser, keine Gemeinschaft
Doch jetzt ist es sehr traurig geworden im Böhmischen Paradies. Wegen der Corona-Pandemie sind die Kneipen und Gasthäuser zu. Man kann nur Essen abholen. Und Flaschenbier für zu Hause kaufen.
«Aber eine Kneipe ist für uns Tschechen mehr als nur Bier», sagt mein Freund Milan. «Es ist auch eine Gemeinschaft. Sich am Tisch zu treffen, sich Geschichten zu erzählen. Sich streiten und sich wieder versöhnen. Am Tisch im Wirtshaus kannst du alles loswerden, was dich bedrückt. Und du bezahlst nur das Bier. Es ist viel günstiger als zum Psychotherapeuten zu gehen.»
Die Kneipe als Arbeitszimmer
Die grossen tschechischen Schriftsteller wie Bohumil Hrabal oder wussten ganz genau, dass man in einem Wirtshaus die besten Geschichten und Charaktere findet. Hašek hat sogar ganze Teile seines weltberühmten Romans «Der brave Soldat Schwejk» in einer Kneipe geschrieben.
Das Wirtshaus als Liebesnest
Auch ein anderer berühmter Prager Schriftsteller – Franz Kafka – wusste Bescheid, obwohl er deutlich weniger Bier getrunken hat als Hašek.
In seinem winterlichen Roman «Das Schloss» spielt das Wirtshaus eine zentrale Rolle: In einer Kneipe kommt der durchgefrorene Landvermesser K. gleich auf der ersten Seite an. In einer Kneipe verliebt er sich später in Frieda, die hier Bier zapft. Mit ihr schläft er dann irgendwann hinter der Theke auf dem Boden in den Bierpfützen – eine der schrägsten und wildesten Liebesszenen der Weltliteratur.
Auch mein Freund Milan mag das Buch sehr. Und Schwejk. Und die Kneipe.
Was bleibt, ist Optimismus
Doch seitdem sein Wirtshaus zu ist, hat Milan kaum noch Lust auf Bier. Was ist passiert? «Es macht einfach keinen Spass zu Hause allein zu trinken. Ich lese viel. Ich mache lange Spaziergänge. Ich habe Zeit, ich bin schon Rentner. Doch ich vermisse die Gesellschaft, meine Freunde, unsere Runde unten dem alten Gemälde in der Ecke der Kneipe. Doch ich bin Optimist. Die Seuche wird früher oder später wieder verschwinden, und wir gehen wieder auf ein Bierchen.»
Die schönste tschechische Lüge
Auf ein Bierchen gehen – das ist die schönste tschechische Lüge. Es heisst eigentlich immer auf drei oder vier, wenn nicht gleich auf fünf Bier zu gehen. Dazu muss man aber wissen, dass das Bier in Tschechien oft ein wenig schwächer ist als das Bier in der Schweiz oder auch in Deutschland.
Und immer wunderbar gezapft – im Glas strahlt es wie ein Stück Gold, geschmückt mit einer hohen schneeweissen Schaumkrone, die nach Sahne schmeckt. Nur in Tschechien kann man sich ein ganzes Glas voll mit dichtem Bierschaum bestellen. Das nennen wir dann Milch – mléko. «Und Milch zu trinken ist gesund», sagt Milan.»
Diesen literarischen Text hat der tschechische Autor Jaroslav Rudiš exklusiv für die Sendung «Echo der Zeit» von Radio SRF verfasst.