«Solche pauschalen Diffamierungen einer ganzen Gruppe wecken die Erinnerung an eine Zeit, in der Juden durch Wort und Bild pauschal als Gefahr für Volk oder Rasse hingestellt wurden», schrieb der Basler Jurist Matthias Bertschinger in einer Strafanzeige. Die Strafanzeige richtet sich gegen das Inserat «Bald 1 Million Muslime» des Egerkinger Komitees, mit dem gegen die zunehmende «Islamisierung» des Landes argumentiert wurde. Durch das Inserat, schrieb Matthias Bertschinger, würden Muslime «pauschal und in einer stossenden Weise herabgesetzt», und darin liege ein Verstoss gegen die Antirassismusnorm im Strafgesetzbuch.
Als Antwort erhielt er einen informellen Brief der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt, in dem es unter anderem hiess, seine Strafanzeige sei «trölerisch», was so viel heisst wie: rechtsverzögernd, rechtsverdrehend.
Matthias Bertschinger ist nicht der einzige. Auch andere besorgte Bürgerinnen und Bürger haben in den letzten Monaten Strafanzeige wegen Rassismus eingereicht oder es zumindest erwogen. Auch gegen Prominente wie Massimo Rocchi, der sich nicht sehr differenziert zum jüdischen Witz äusserte, oder gegen den Berner Stadtpräsidenten Alexander Tschäppät, der sich in einer Comedy-Show abschätzig über Italiener und Griechen ausliess.
Grosses Empörungspotential
Er habe seine Strafanzeige abgeschickt, sagt Matthias Bertschinger, «weil es sonst niemand getan hat»; er sieht das Einschreiten gegen diese Art von Aussagen, wie sie im Inserat «Bald 1 Million Muslime» vorkommen, als eine Bürgerpflicht.
Dass Betroffene und auch empörte Bürgerinnen und Bürger gehäuft in die Tasten greifen, um eine Strafanzeige wegen Rassismus einzureichen, hält Hans Stutz, Experte in Sachen Rechtsextremismus für «kontraproduktiv». Er und auch der Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA, Ronnie Bernheim, erinnern daran, dass die Antirassismusnorm im Strafgesetzbuch nur für besonders schwere Fälle gedacht sei. Bagatellen, sagt die Geschäftführerin der GRA, Leila Feit, seien kein Fall für die Justiz; und allzu häufige Anzeigen wegen Rassismus führten zu einer «Banalisierung» der Norm, und das dürfe nicht hingenommen werden.
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Auch, weil die rechten Parteien nur darauf lauern. Denn seit Jahren arbeiten die Parteien am rechten Spektrum an der Abschaffung des Artikels 261 im Strafgesetzbuch, mit Motionen, mit Postulaten, vor allem aber mit einer öffentlichen Kampagne. Die Bestimmung, die vor 20 Jahren nur relativ knapp angenommen wurde, sei ein «Maulkorb», eine «unzulässige Beschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit», heisst es allenthalben, vor allem bei Exponenten der SVP. Deshalb, sagt Hans Stutz, spiele eine allzu häufige Anrufung der Norm der Rechten in der Schweiz in die Hände.
Bis an die Grenze gehen
Doch wo liegen die Grenzen für eine zulässige und eine strafbare Äusserung? Die Gerichte, auch das Bundesgericht, haben dazu eine langjährige, relativ differenzierte und auch zurückhaltende Praxis erarbeitet. Aber die rechtsgerichteten Parteien probieren aktiv aus, wo die Grenzen dieser Strafnorm liegen. Konkret – sie loten aus, wie man in der Schweiz diskriminierende, verletzende Dinge über Migranten und religiöse Minderheiten sagen kann, gerade noch ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen.
Dazu hat Hermann Lei, Rechtsanwalt und SVP-Kantonsrat im Thurgau, einen Leitfaden erarbeitet, den er gerne auch an Schulungen erläutert. Der Leitfaden, auf der Website von Hermann Lei publiziert, soll klären, was man schreiben darf oder nicht. Unzulässig, meint Hermann Lei, sei ein Facebook-Post wie der von Seppi Spiess, SVP-Präsident der Gemeinde Schwyz, der nach dem Tod eines Autodiebs aus Moldawien schrieb «Ech ha richtig freud gha, so müesst's si, abeschüsse, dä choscht die Sauwar nümi.. (...) Aber ebe, d' Usländer lachet au über üs, öber üseri Gsetz...».
Nur überlegt twittern
Umgekehrt sei fast jede Aussage zulässig, wenn sie mit einem Fragezeichen versehen sei. Rechtswidrig der pauschale Satz «Albaner sind kriminell», unproblematisch hingegen die Differenzierung in «Albaner sind um Durchschnitt krimineller als Schweizer». Mit anderen Worten, so Lei, «man muss seine Aussage immer einschränken», mit «einige/gewisse/eine Anzahl» und so weiter.
Damit umschiffe man einen Kernbestand des Antirassismusartikels: dass er «Rasse, Religion oder Nation» als kollektive, identifizierbare Gruppe schützt. Das Ziel, das Hermann Lei mit seinem Leitfaden verfolgt ist klar: Man soll die diskriminierenden Aussagen überlegt äussern, «nicht, wenn man getrunken hat», nicht unbedacht. Dann, so hält er fest, soll man die neuen Medien, vor allem Twitter und Facebook, möglichst intensiv nutzen, um die eigene Botschaft zu verbreiten.
Wer Einhalt gebietet
Das Antirassismusgesetz in der Schweiz ist zahm, das Urteil des Bundesgerichts zum Hitlergruss hat das gezeigt. Je enger die Norm gefasst wird, um so grösser wird der Spielraum für diejenigen, die diskriminierende, an die Grenze des Rassismus gehende Aussagen machen wollen. Das macht Ronnie Bernheim, Stiftungsratspräsident der GRA und anderen Experten Sorgen.
Bernheim warnt vor einem «Populismus», der Meinungen salonfähig macht, die früher nicht denkbar gewesen wären, während Matthias Bertschinger darauf hinweist, dass die Rechtssprechung in Sachen Rassismus immer nur so gut sein könne wie die bestehende Rechtskultur. Und Bertschinger sorgt sich über die Gewöhnung, die in der Öffentlichkeit entsteht; eine Gewöhnung, die sich einstellt durch das Wiederholen von grenzwertig rassistischen, aber gerade noch nicht wirklich strafbaren Äusserungen in der Öffentlichkeit.