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Gesellschaft & Religion Wer Ljudmila Ulitzkajas Buch liest, versteht Russland besser

Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bedeutendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Die Putin-Kritikerin gehört zu den wenigen Intellektuellen in ihrem Land, die sich dem autoritären Klima widersetzen – mit Romanen, aber auch Essays. Eine Sammlung dieser Essays ist nun auf Deutsch erschienen.

Es ist jammerschade, dass man nicht mehr Zeit zum Lesen hat. Aber 26 Essays zu wesentlichen Themen liest man nicht so ohne Weiteres weg. Ljudmila Ulitzkajas neues Buch «Die Kehrseite des Himmels» umfasst eine das ganze Leben umspannende Rückschau, und was ihren bevorstehenden Tod betrifft auch Vorschau, dann Abstecher in die russische Literatur und die sowjetische Alltags- und Kulturgeschichte und schliesslich die ständige Bezugnahme zum Judentum und zum Christentum. Das braucht Zeit.

Nicht mehr und nicht weniger als ihr Leben bietet uns Ljudmila Ulitzkaja zwischen zwei Buchdeckeln. Dieses Leben lässt sie lange vor ihrer Geburt beginnen. Bei sämtlichen Vorfahren, die ihr noch bekannt sind, bei deren vorrevolutionären Geistesleben, dem jüdischen, dem christlichen, dem russischen, geprägt von Bildung, Literatur, Musik und ganz banalem Überlebenskampf.

Der eigene Tod

Und sie endet bei ihrem eigenen bevorstehenden Tod. Bei ihrer Krebsdiagnose im Jahr 2010, ihrer Reise nach Israel ins Spital, ihrer Brustamputation im Jahr 2012 und der Frage nach der Art ihrer eigenen Beerdigung.

Dazwischen die anderen grossen Themen. Russland in allen Facetten. Russische Literatur, der ihre Liebe gilt, vor allem Pasternak. Russische Kunst, russische Geschichte, russische Politik. Das alles kennt sie gut. Daraus schöpft sie. Ihr letzter grosser Roman «Das grüne Zelt» zum Beispiel ist ein höchst präzises Porträt der Sowjetunion nach Stalin mit der Breschnew-Zeit als Zentrum und der Samisdat-Bewegung als Gegenpol, die systemkritische Literatur kopierte und auf inoffiziellen Wegen verbreitete.

Kriegstreiber Putin

Im neuen Buch geht sie weiter. Sie beschreibt Putin als Diktator und Kriegstreiber und sieht einen dritten Weltkrieg als durchaus mögliches Resultat des momentanen Ukrainekonflikts.

Ihr grosses Thema ist die Wechselwirkung zwischen Kunst und Politik. Wobei Ljudmila Ulitzkaja sagt, dass es nicht nur die Kunst ist, die korrektiv auf die Politik einwirkt. Es ist auch umgekehrt: Die Politik macht Kunst zu Kunst. Die beiden bedingen sich.

Ulitzkaja ist «spirituell informiert»

Buchhinweis

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Ljudmila Ulitzkaja: «Die Kehrseite des Himmels». Hanser, 2015.

Dazwischen das richtige Leben. Ihre drei Ehen, die sie beschreibt, und ihr Glaube, der immer wieder durchschimmert. Er macht sie zu mehr als einer politischen Beobachterin. Er macht sie zu etwas Feinerem, Menschlicherem. Sie ist nicht religiös. Aber in Anlehnung an die Alte Musik könnte man sagen «spirituell informiert».

Es ist ein grosser Mensch, der sich da offenbart und auf ein Leben und sein Land zurückschaut. Es braucht Zeit, das alles zu lesen, geschweige denn, das alles zu verdauen. Aber es lohnt sich.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 27.3.15, 12.10 Uhr

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