Erinnert sich jemand an das Wort «Dichtestress»? Vor nicht allzu langer Zeit wurde damit Politik gemacht. Aus der Biologie entlehnt, machte die SVP 2014 einen politischen Kampfbegriff daraus.
Es galt, die «Masseneinwanderungsinitiative» zu gewinnen. Tatsächlich konnte die Partei vor allem Menschen auf dem von Zersiedelung betroffenen ländlichen Gebieten davon überzeugen, dass es in der Schweiz zu eng geworden sei. Schuld daran, so die SVP, sei die Zuwanderung aus dem Ausland.
Menschenleere
In Zeiten von bundesrätlich verordneter sozialer Distanzierung an Dichtestress zu denken, fällt schwer: unbelebte Plätze, kaum Passanten, keine Pendler. Freie Sitzplätze, menschenleere Bahnhöfe und Einkaufspassagen.
In Zeiten wie diesen lohnt es sich trotzdem, den Dokumentarfilm «Die Gentrifizierung bin ich» von Thomas Haemmerli wiederzuentdecken. Und das nicht nur aus nostalgischen Gründen.
Denn obwohl er als Ausgangspunkt die Initiativkampagne der SVP zum «Dichtestress» nennt, findet die Dokumentation überraschenderweise doch auch visionäre Antworten auf unsere jetzigen Lebensumstände im «Social Distancing».
Intelligent, unterhaltend und selbstironisch nimmt sich der Filmessay von 2017 dem Thema Verdichtung im städtischen Milieu an. Um politische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu erklären, greift Haemmerli auf seine persönliche Geschichte zurück.
Denn sein Werdegang zeigt exemplarisch, wie sich unser Verhältnis zum Wie- und Wo-Wohnen im Laufe eines kurzen Lebens verändern kann: 1964 in Zürich geboren, in grossbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, mausert sich Haemmerli in den 1980er-Jahren zum Hausbesetzer, bis er schliesslich als weltenbummlerischer Zweitwohnungsbesitzer in Metropolen wie São Paulo, Mexico City und Tiflis residiert.
Auf ins Hochhaus
Sein Fazit: Vertikales Wohnen ist die Lösung. Ob weltstädtische Avantgarde oder obdachlose Unterschicht: Hochhäuser bieten praktikable Lösungen für alle sozialen Schichten an.
In Zeiten der Verdichtung wird durchs Bauen in die Höhe der Boden maximal genutzt – der Markt entspannt sich, vor allem in Städten, die unter begrenzter Fläche leiden.
Aber auch in Zeiten von «Social Distancing» bieten Hochhäuser ein entscheidendes Mehr: In ihnen entstehen kleine und grössere Gemeinschaften, die aufeinander schauen, sich unterstützen, im besten Fall Schutz bieten. Vertikale Dörfer in Grossstädten.
Bis diese Einsicht auch in die hiesigen städtebaulichen Überlegungen einfliesst, sitzen viele von uns noch eine Weile allein in ihren Einfamilienhäusern und träumen davon, sich schon bald wieder ins dichte Gedränge stürzen zu dürfen.
«Die Gentrifizierung bin ich – Beichte eines Finsterlings» ist gegen Bezahlung auf cinefile.ch , iTunes oder Teleclub verfügbar .