Das Thema Migration sorgt in Italien seit Jahren für Schlagzeilen. Und es spaltet die Gesellschaft, stellt der Migrations-Experte Christopher Hein fest. Dabei kehren inzwischen mehr Menschen Italien den Rücken, als Menschen ins Land kommen.
SRF: Christopher Hein, wie nehmen Sie die Stimmung in der Bevölkerung in Italien beim Thema Migration wahr?
Christopher Hein: Es gibt eine tiefe Spaltung. Umfragen zeigen, dass noch vor kurzer Zeit 58 Prozent der Italienerinnen und Italiener für die Politik der geschlossenen Häfen waren.
Das heisst aber auch, dass 42 Prozent mit dieser Politik nicht einverstanden sind.
Die Mehrheit der Gesellschaft lehnt Flüchtende ab?
Wir haben vor allem im Norden, also in den reichsten Gebieten Italiens eine Strömung der öffentlichen Meinung, die – um es vorsichtig auszudrücken – fremdenfeindlich ist. Hier gibt es auch offenen Rassismus.
Gibt es da regionale Unterschiede?
In grossen Städten wie Mailand, Turin, Genua oder Venedig ist es anders als auf dem Land oder in den Vororten. Gerade in den Teilen des Landes, wo die Bevölkerung im Alltag wenig Kontakt mit Ausländern hat, machen sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus verstärkt bemerkbar.
Andererseits haben wir eine ausserordentlich aktive Zivilgesellschaft. Ich denke an die Kirchen, aber auch an viele Vereinigungen, Bürgerinitiativen und spontane Initiativen von Menschen, die helfen.
Haben Sie Verständnis für die Wut mancher Italienerinnen und Italiener auf Migranten?
Nein. Die Wut auf Europa hingegen kann ich verstehen. Seit 2013 hat Italien bis zur Schliessung der Häfen unter dem ehemaligen Innenminister Matteo Salvini Bootsflüchtlinge aufgenommen.
Die Asylbewerber und Flüchtlinge mussten in Italien bleiben. Die ganze Verantwortung lag aufgrund des Dublin-Systems auf den Schultern Italiens, weil die Menschen da zu bleiben haben, wo sie als erstes in der Europäischen Union ankommen.
Man war grosszügig, musste aber hinterher die Rechnung selbst bezahlen, weil aufgrund der geografischen Lage die meisten Migranten in Italien und Griechenland ankommen.
Inzwischen hat Luciana Lamorgese das Innenministerium und das Dossier Immigration vom Rechtspopulisten Matteo Salvini übernommen. Sind Auswirkungen spürbar?
Bis jetzt nicht wirklich. Unter Salvini wurden Sicherheitsdekrete beschlossen, die beispielsweise die Rechte von Asylsuchenden einschränken. Da hätte man erwarten können, dass die neue Regierung und die Ministerin sagen würden: Okay, das ist jetzt Vergangenheit.
Das ist aber bisher nicht der Fall. Das ist wohl auch Teil des Kompromisses der beiden Regierungsparteien.
Italien ist auch ein Auswanderungsland. Ich denke an die Italienerinnen und Italiener, die in den 1960er-Jahren in die Schweiz gekommen sind. Spielen diese Erfahrungen in der aktuellen Debatte eine Rolle?
Erstaunlicherweise sehr wenig. Es gab in der jüngeren Vergangenheit mehrere Auswanderungswellen. Von 1830 bis zum Ersten Weltkrieg sind ungefähr 30 Millionen Italiener nach Nordamerika, Südamerika und nach Australien ausgewandert.
Das ist eine Art von Verdrängung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Auswanderungswelle aus wirtschaftlichen Gründen in europäische Länder. Diese Erfahrungen spiegeln sich wenig in der gegenwärtigen Debatte wider.
Warum?
Das ist eine Art von Verdrängung. Die Emigration in der eigenen Familie war häufig leidvoll und mit Armut und Schwierigkeiten verbunden. Da gibt es die Tendenz, das wegzuschieben.
Wie ist die Situation aktuell?
Es gibt eine weitere Welle von italienischer Emigration. Sie hat vor fünf bis sechs Jahren begonnen und nimmt jedes Jahr zu. Es sind überwiegend junge Italienerinnen und Italiener, häufig mit einer guten Schul- oder Universitätsausbildung.
Sie wandern in andere Länder in Europa oder nach Argentinien, Brasilien oder in die USA aus. Das ist ein Phänomen. In den letzten fünf Jahren hat es eine Abwanderung von weit mehr als einer halben Million junger Italienerinnen und Italiener gegeben.
Ist diese Auswanderung stärker als die Einwanderung?
Ja, sie ist stärker. Seit zwei Jahren wandern mehr Menschen aus, als nach Italien kommen. Das ist Fakt.
Das Gespräch führte Norbert Bischofberger.