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Ein Mädchen im Sommerkleid versteckt sich hinter einem hellblauen Vorhang.
Legende: «Viele Kinder in der Schweiz erhalten Hilfe, aber nicht überall haben sie die gleichen Chancen», sagt der Psychologe Andreas Jud. Keystone

Kindsmissbrauch in der Schweiz «Man hat schnell die ganz schlimmen Fälle vor Augen»

Die Zahl gibt zu denken: In bis zu 50’000 Fällen pro Jahr braucht ein Kind Hilfe, weil es direkt oder indirekt von Gewalt betroffen ist oder vernachlässigt wird. Dies zeigt eine gross angelegte Studie, die soeben erschienen ist . Für die Studie wurden etwa Opferhilfsorganisationen, die Kindes- und Erwachsenen-Schutz-Behörden (KESB), die Polizei und Spitäler befragt. Der Psychologe Andreas Jud ist einer der beiden Studienleiter.

Prof. Dr. Andreas Jud

Psychologe

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Andreas Jud ist Dozent und Projektleiter am Institut für Sozialarbeit und Recht an der Universität Luzern. Der Psychologe forscht über Massnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe.

SRF: Bis zu 50’000 Fälle pro Jahr. Das klingt für den Laien nach erschreckend viel. Hat das Ergebnis auch Sie als Experten überrascht?

Andreas Jud: Ganz ehrlich? Nein. Das ist etwa in der Grössenordnung, die wir aus der bisherigen Forschung zu Kinderschutz in der Schweiz vermutet haben. Es gibt auch eine vergleichbare Studie in den Niederlanden, die in etwa die gleiche Grössenordnung zeigt für die Niederlande.

Aber es ist zu viel, oder?

Es ist schon viel, das ist so. Aber man hat schnell die ganz schlimmen Fälle vor Augen, die medial bekannt wurden: der Fall Flaach etwa oder andere körperlich geschädigte, sexuell missbrauchte Kinder.

Es gibt aber auch viele nicht besonders schwere Fälle. Kinder etwa, die Vernachlässigung erfahren haben und auch Hilfe benötigen. Es gibt manchmal verzerrte Vorstellungen davon, was ein Kindesschutz-Fall sein kann.

Sie haben in Ihrer Studie zwischen psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt unterschieden. Dann kommt es häufig vor, dass Kinder Zeugen werden – von Gewalt in der Familie etwa – und indirekt betroffen sind. In den meisten Fällen geht es aber um Vernachlässigung. Muss man daraus schliessen, dass in vielen Fällen die Eltern überfordert sind?

Das können wir in den Daten der aktuellen Studie nicht zeigen. Aus der Forschung zur Vernachlässigung ist es aber so, dass Vernachlässigung in der Regel nicht absichtlich geschieht, sondern oft wegen Schwierigkeiten, Überforderung und Mangel an Kompetenzen.

Eine Strategie wäre, die niederschwelligen Hilfen zu stärken.

Erhalten Kinder in der Schweiz die Hilfe, die sie benötigen?

Die meisten ja. Die Studie zeigt, dass die Anzahl Fälle, die in das Kinderschutz-System kommen, regional sehr unterschiedlich sind. Wir können aber davon ausgehen, dass keine bestimmte Region in der Schweiz deutlich weniger Fälle von Kindesmisshandlung hat als andere Regionen.

Entsprechend gelte es zu überprüfen, warum in bestimmten Regionen deutlich weniger Fälle bekannt werden. Das ist die grosse Schwierigkeit: Viele Kinder in der Schweiz erhalten die richtige und nötige Hilfe, aber sie haben nicht überall die gleichen Chancen, diese zu erhalten.

Wie kann die Situation verbessert werden?

Es gilt zu identifizieren, was die Gründe dafür sind, dass in bestimmten Regionen weniger Fälle bekannt werden. Es könnte sein, dass bei einem grossen Angebot an niederschwelligen Angeboten wie Schulsozialarbeit etc. die Fälle früher erkannt und gemeldet werden. Und so entsprechend besser unterstützt werden. Eine Strategie wäre, die niederschwelligen Hilfen zu stärken.

Das Gespräch führte Remo Vitelli.

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