Jeden Freitag hält Ramazan Demir das Freitagsgebet in einem Gefängnis in Österreich. Dabei schaut er jeweils in die Augen der meist jungen Männer. Er ahnt, wen er zu einem Gespräch unter vier Augen empfangen wird.
Es sind Jugendliche, manche noch keine 20, die Schlimmes erlebt, aber auch Schlimmes getan haben. Allen gerecht zu werden, gleich offen zu begegnen, sei nicht immer einfach, sagt Ramazan Demir: «Egal was jemand getan hat, ich muss jeder Person neutral begegnen. Natürlich ist das nicht immer einfach, aber als Seelsorger muss ich es versuchen.»
Unfassbare Taten
Bei den Gesprächen unter vier Augen erfährt der Imam Geschichten wie die von Musa: Er war in Syrien, hat Frauen und Mädchen in eine Grube getrieben, wo sie vergewaltigt und danach getötet wurden.
Oder die von Adam: Er hat auf Geheiss seines Grossvaters seine eigene Schwester ermordet, weil sie ihren Mann betrogen hatte. Er habe die Ehre seiner Familie retten müssen, der Koran verlange das.
Kaum Kenntnis der eigenen Religion
Demir sagt, dass viele Insassen überzeugt seien: Muslime müssten alle Ungläubigen töten, weil das angeblich so im Koran stehe. «Wenn das jemand sagt, dann sage ich: Zeig' mir die Stelle im Koran.»
Bei dieser Aufforderung zeige sich, dass die Insassen ihre eigene Religion kaum kennen. Diese Überzeugungen aus den Köpfen der Gefängnisinsassen zu bringen, sei seine wichtigste Aufgabe, ist Ramazan Demir überzeugt.
Online und auf Hinterhöfen radikalisiert
Die meisten hätten sich über die sozialen Medien radikalisiert, oder seien auf Hinterhöfen von Hasspredigern aufgewiegelt und mit falschen Zitaten gefüttert worden. «Es ist wichtig zu erklären, dass man den Koran im Kontext verstehen muss. Aber wenn man einfach Zitate aus dem Koran herauspickt und sagt, genauso ist es, kann das fatal enden.»
Deswegen sieht sich Ramazan Demir nicht nur als Seelsorger, sondern auch als Aufklärer: «Auf der einen Seite ist es meine Arbeit, für die Insassen da zu sein. Auf der anderen Seite erteile ich eine Art Religionsunterricht, der einigen die Augen öffnet. Ich leiste damit Präventions- und Deradikalisierungsarbeit.»
Handlungsbedarf im Strafvollzug
«Die Öffentlichkeit muss verstehen, was wirklich vor sich geht. Gefängnisse sind Brutstätten der Radikalisierung. Deswegen müssen wir im Strafvollzug Gegenmassnahmen ergreifen. Denn diese Häftlinge werden an einem Punkt aus der Haft entlassen. Dann sind sie gefährlich für die ganze Gesellschaft.»
Bis jetzt sind muslimische Gefängnisseelsorger ehrenamtlich unterwegs und nur wenige Stunden pro Woche bei den Gefangenen. Es brauche Imame und Seelsorger, die für ihre Arbeit bezahlt werden, sagt Demir. Nur so könnten sie die Insassen regelmässig treffen, sie zu Gesprächen bewegen, auch wenn sich die Betreffenden erst einmal weigern.
Hoher Preis
Für seine Arbeit und seinen Einsatz zahlt Ramazan Demir einen hohen Preis. Auf der einen Seite wird er von radikalen Muslimen mit dem Tod bedroht. Auf der anderen Seite erhält er Drohbriefe von Rechtsextremen.
Deshalb möchte er sich zurückziehen, wieder vermehrt im Hintergrund arbeiten. Vorher aber will er mit seinem Buch auch anderen einen Blick in die Seele der muslimischen Häftlinge ermöglichen und ihnen die Augen öffnen für die Gefahr, die in den Gefängnissen lauert.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 28.11.2017, 17:22 Uhr.