Manchmal kommen Eltern auf eigenartige Ideen, wenn sie sich Namen für ihre Kinder ausdenken. Welchen Teufel muss wohl Anabel geritten haben, als sie ihre Tochter «Purity» taufte. Ihr Umfeld nennt sie aber meistens einfach nur Pip, wie der Waisenjunge Pip in Charles Dickens‘ «Grosse Erwartungen»; schon auf der ersten Seite wird diese literarische Referenz klar: Franzen sieht sich in der erzählerischen Tradition dieses englischen Schriftstellers.
Verzweifelte Vatersuche
Auch Franzen‘s «Pip» hat keinen Vater; ihre Mutter will ihr nicht einmal den Namen des Erzeugers verraten; und so setzt die 21-jährige Kalifornierin alles daran, diesen Mann auf eigene Faust zu finden.
Die Suche führt sie vorerst nach Bolivien zum sexsüchtigen Whistleblower Andreas Wolf, der dort wie ein Guru seine Sekte um sich schart und mit dem Hacken von virtuellen Geheimnissen die Welt in Atem hält. Er – so hofft Pip – vermag vielleicht auch ihr persönliches Rätsel im Word Wide Web aufzulösen.
Eine Welt ohne Geheimnisse
Andreas Wolf ist die schillernste, aber auch unheimlichste Figur in «Unschuld»: Aufgewachsen in der ehemaligen DDR und schon früh im Clinch mit den Staatsoberen, hat er gleichzeitig das System der Bespitzelung und Manipulation zu seiner zweiten Identität gemacht. Und so wundert es eigentlich wenig, dass er später – ebenso rigoros – im Netz für die Abschaffung jeglicher Geheimnisse einsteht. Und schamlos allen die Masken vom Gesicht reisst.
Selber hält Andreas aber krampfhaft eigene Schandtaten unter dem Deckel: die persönliche Angst, dass ein noch in der DDR verübter Mord auffliegen könnte, lässt ihn auch Pip instrumentalisieren; er schickt sie nach Denver, um dort – bei einem Chefredaktor, der als einer der wenigen seine dunkle Vergangenheit kennt, – ein Spionageprogramm ins Computerprogramm einschleusen zu lassen; so würde Wolf rechtzeitig erfahren, wenn ihm von dieser Seite her Gefahr droht.
Die Macht der Manipulation
Manipulation ist wie der morastige Boden, auf dem der Roman «Unschuld» steht; alle ProtagonistInnen machen sich schuldig, lassen sich einspannen und ausspielen, – und Jonathan Franzen gelingt es, auch formal dem Thema gerecht zu werden.
Wenn er zum Beispiel bereits in der ersten Hälfte des Romans den leiblichen Vater von Pip entlarvt, erscheint einem diese Geschichte derart konstruiert und abstrus, dass man nur noch den Kopf schütteln kann. Hat Franzen solche billigen Tricks nötig? Und man ist sicher: Aus dieser Sackgasse kann er sich bis Seite 830 unmöglich noch befreien. Aber er kann. Mehr noch: Er serviert nicht nur eine plausible Erklärung, sondern lässt uns auch ein bisschen erröten, dass wir uns so leicht haben hinters Licht führen lassen.
Beiträge zum Thema
Sklaven des Internets?
Die Fülle an Themen, die Jonathan Franzen in «Unschuld» abdeckt, ist enorm: Er hält auch immer wieder den Finger auf wunde Punkte unserer Gegenwart. Werden wir zunehmend Sklaven des Internets? Nimmt das Diktat der Stunde, alles im Netz offenzulegen, nicht im Grunde genommen die genau gleiche unheimliche Dimension an, wie wir sie in totalitären Staaten wie der DDR erlebt haben, wo – im Dienste der höheren Sache – das Private abgeschafft worden war? Löste also die digitale Revolution quasi die sozialistische Revolution ab?
Jonathan Franzen scheut sich nicht, provokative Thesen in den Raum zu stellen und auch grosse, philosophische Fragen von Schuld und Unschuld («Purity») aufzuwerfen. Aber sein grosses Verdienst ist es eben, dass er voll der Kraft seiner Geschichte vertraut; er moralisiert nicht, sondern erzählt – und dies mit einer Leichtigkeit und Intensität, wie wir sie in der modernen Literatur leider nur noch selten antreffen. Dabei gelingt ihm der weite Panoramablick ebenso wie das Sezieren des Intimen, Abgründigen. Die Beziehungsszenen gehören in «Unschuld» zu den eindringlichsten Passagen, die an Texte von Alice Munroe oder August Strindberg erinnern.
Der Traum von der «Big novel»
Jeder amerikanische Schriftsteller – so wird gesagt – träumt davon, einmal im Leben «the big novel» zu schreiben; in der angelsächsischen Tradition ist es das Format des grossen Gesellschaftsromans, das es zu schaffen gilt. Jonathan Franzen hat diesen Olymp mit «Korrekturen» längst erklommen. Und er bestätigt jetzt mit «Unschuld», dass er sich definitiv dort oben niedergelassen hat.