1949. In der Sowjetunion unter Diktator Josef Stalin kühlt sich das innenpolitische Klima ab. Nach den vorübergehenden Lockerungen während des Zweiten Weltkriegs rollt eine neue Terrorwelle an. Sie ist dieses Mal von einer antisemitischen Kampagne begleitet.
Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund spielt der Roman «Untertauchen» der vor knapp 20 Jahren verstorbenen russischen Autorin Lydia Tschukowskaja. Er ist eine ebenso scharfsinnige wie schonungslose Abrechnung mit dem Unterdrückungssystem des Stalinismus. Geschrieben hat das Buch die Autorin in den 1950er Jahren. In der Sowjetunion verboten, kam es in den 1970er-Jahren im Westen heraus, zuerst auf Englisch, später auch auf Deutsch. Nun liegt eine Neuauflage der deutschen Ausgabe vor.
Trost in der Natur und der Sprache
Der Roman erzählt von der fiktiven Schriftstellerin Nina Sergejewna, welche die ersten Monate des Jahres 1949 in einem Sanatorium auf dem Lande verbringt, in einem Ferienheim für sowjetische Kulturschaffende. Sie versucht über das Trauma hinwegzukommen, das sie quält: Sie hat in den Säuberungen der 1930er-Jahre ihren Mann verloren.
Auf langen Spaziergängen in der winterlichen Natur rund um das Sanatorium sucht sie Erleichterung. Verschneite Tannen in der Umgebung geraten zu mütterlichen Trostspenderinnen. «Schlaft gut, meine Lieben», ruft sie den Bäumen in Gedanken zu, «es ist nicht so schlimm, alles geht vorbei, alles ist nur Schein.» Halt sucht Nina Sergejewna auch in der Sprache: in der Niederschrift einer Erzählung, in der sie den Verlust ihres Mannes verarbeitet.
Klima der Angst
Doch das Untertauchen mag nicht richtig gelingen. Während Gesprächen mit anderen Gästen des Sanatoriums erlebt sie die für das Leben und Überleben in der Diktatur typische Unverbindlichkeit und Vorsicht: Nur kein falsches Wort, das Gegenüber könnte ein Spitzel des Regimes sein!
Nina Sergejewna verliebt sich in einen ihrer Tischnachbarn, den Schriftsteller Nikolaj Bilibin. Er ist einer der wenigen Überlebenden, die aus einem sowjetischen Straflager je zurückgekehrt sind. Auch Bilibin nutzt den Aufenthalt im Sanatorium zum Schreiben. Im Unterschied zu Nina Sergejewna deutet er jedoch das unsägliche Leid, das ihm das Regime angetan hat, in einen verlogenen Lobgesang auf die Errungenschaften des Sowjetkommunismus um. «Sie sind ein Feigling», wirft Nina Bilibin entgegen, als sie das Manuskript seines Roman zu lesen bekommt, «nein schlimmer: Sie sind ein falscher Zeuge.»
Die Kraft des Nicht-Gesagten
«Untertauchen» ist neben «Ein leeres Haus» der einzige Roman Lydia Tschukowskajas. Er besticht durch die Exaktheit der Sprache. Kein Wort ist zu viel in diesem Roman. Er entfaltet seine Wirkung im Nicht-Gesagten.
Sicher, das Buch ist ein Zeitgemälde des Stalinismus. Aber nicht nur. Der Roman reflektiert auf äusserst subtile Weise die grundsätzliche Ambivalenz, mit der Menschen in Diktaturen konfrontiert sind: nämlich aufbegehren zu wollen und sich dennoch zu fügen, statt zu reden zu schweigen, sich nach Freiheit zu sehnen und sich am Ende doch im Kerker einzurichten und dabei die Selbstachtung zu verlieren.
Schreibverbot nach nur zwei Büchern
«Untertauchen» bedeutete für Lydia Tschukowskaja das Aus als Schriftstellerin. Zwar entging sie, die Tochter des in Russland damals wie heute geschätzten Kinderbuchautors Kornej Tschukowskij, wie durch ein Wunder dem Vernichtungsapparat des Regimes. Aber der staatliche Schriftstellerverband schloss sie in den 1970er Jahren aufgrund ihrer Unbotmässigkeit aus.
Trotzig bezeichnete sie in ihrer letzten Rede vor dem Verband die Ächtung als «Ehre», auf die sie «stolz» sei. Schliesslich habe derselbe Verband gegen «Riesen, wie Achmatowa und Solschenizyn» dieselben Massnahmen ergriffen. Es nützte alles nichts. Tschukowskaja erhielt Schreibverbot. Und in der Sowjetunion durfte «Untertauchen» erst während der Perestrojka erscheinen – wenige Jahre vor Lydia Tschukowskajas Tod.