SRF: Ein Komponist hat ständig Entscheidungen zu treffen. Sie kommen doch oft an Weggabelungen, können den einen Ton schreiben oder den anderen. Fällt Ihnen das Entscheiden manchmal schwer?
Jörg Widmann: Das ist für mich immer eine Frage auf Leben und Tod. Auch wenn ich esse, wenn ich irgendwelche Dinge mache, beisst und bohrt sich die Frage fest, wie es weitergeht.
Nichts raubt in der Kunst so sehr Kraft wie das Sich-Entscheiden-Müssen. Allein diese Weggabelung ist ja vielleicht der letzte Punkt, an dem der Autor die Illusion hat, er könnte noch entscheiden. Ganz oft merke ich im Nachhinein, dass genau das die Weggabelung war, wo ich tatsächlich die Verantwortung abgebe.
Also Sie haben, wenn Sie ein Stück komponieren, einen zeitlichen Verlauf, den Sie dann mit einem bestimmten Material auffüllen?
Nein, ich könnte nie so arbeiten. Weil ich oft gemerkt habe, dass es eine grosse Diskrepanz zwischen der Form und diesem Material gibt. Vielleicht passt dieses Material zu dieser Form gar nicht. Das heisst, die Form schafft sowieso das Material selber und das Material schafft seine Form. Das geht Hand in Hand.
Und was passieren kann, ist, dass wenn ich diesen ganzen orchestralen Zug auf eine gewisse Stelle zurasen lasse, bei der ich mir gedacht habe, hier bahnt sich das und das an, hier wird es einen Kulminationspunkt geben. Dann kann es sein, dass sich doch plötzlich etwas vollkommen anderes ergibt.
Ich schreibe nie das Stück, das ich mir vorgenommen habe zu komponieren.
Das heisst, man weiss nicht, wie und wohin sich eine kompositorische Idee genau entwickelt?
Gut, ich schreibe sowieso nie das Stück, das ich mir vorgenommen habe zu komponieren. Nie. Das Stück ist immer stärker als man selber. Es ist jedes Mal wieder heftig und nicht schön, sich es wieder eingestehen zu müssen, dass das Stück ganz grosse Kräfte entwickelt, denen man ganz nackt gegenüber steht.
Das Stück selber sagt mir: Ist ja nett, dass du dir vorgestellt hast, dass ich – das Stück – an dieser Stelle dort und dort hinzugehen habe. Aber ich tu's nicht.
Der Komponist muss an den ganz entscheidenden Stellen doch eingreifen und sagen: So. Bis hierhin und nicht weiter.
Das Stück als quasi selbständiges Wesen. Das braucht den Komponisten als Katalysator?
Ich würde sagen ja. Aber der Komponist muss an den ganz entscheidenden Stellen doch eingreifen und sagen: So. Bis hierhin und nicht weiter. Der schönste Moment im Stück ist trotzdem der, wenn zwei, drei dieser Weg-Entscheidungen gefallen sind und es entsteht, und nicht mehr ich die Illusion habe, dass ich mache. Und wo dann auch das Tempo des Komponierens fast Realzeit ist.
Da schreibe ich manchmal wahnhaft schnell und habe den Eindruck, viel konkreter zu wissen, was ich gerade tue. Ich bin auch innerlich wesentlich ruhiger, obwohl ich gerade mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit schreibe. Das ist der schönste Moment. Ich habe es bloss in keinem Stück jemals geschafft, dass dieser Moment sich einfach so einstellt, ohne dass man zu diesen schmerzhaften Entscheidungen formaler Natur gezwungen wäre.
Das Gespräch führte: Florian Hauser.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Musik unserer Zeit , 30.11.2016, 20 Uhr