Ensembles mit über 100 Musikerinnen und Musikern könnten es in Zukunft schwer haben, wenn die zurzeit geltende Norm von zwei Metern Sicherheitsabstand aufrecht erhalten wird. Dasselbe gilt für das Publikum. Einen Saal mit 1000 Plätzen wegen dieser Sicherheitsnorm nur zur Hälfte oder gar zu einem Drittel zu füllen – lohnt sich das noch?
Kommt das Hygieneprotokoll dazu. Hände desinfizieren, Schutzmasken tragen – das dürfte das feierliche Konzertritual erheblich stören. Gerade weil das typische Publikum im klassischen Konzert zur so genannten Risikogroppe der über 65 Jährigen gehört, sind diese Massnahmen zurzeit kaum wegzudenken. Und doch wächst das Bedürfnis nach dem Live-Konzert gefühltermassen gerade stark an.
Beispiel Sinfonieorchester
Im Online-Magazin VAN sind im April 19 Thesen zum Musikleben nach Corona erschienen. Hartmut Welscher ist einer der Autoren dieses Artikels. Er und seine Co-Autoren haben sich Gedanken gemacht, welchen Einfluss das Virus auf die Gewohnheiten der Klassikwelt hat und zukünftig haben könnte.
Das Sinfoniekonzert der Zukunft wird es geben, sagt Hartmut Welscher. Aber in veränderter Form. Kammerorchester oder noch kleinerer Formationen könnten zur Alternative werden.
Das Tourneewesen, wo Musikerinnen und Musiker um die ganze Welt fliegen – auch das dürfte sich wesentlich einschränken. Keine schlechte Idee, findet Welscher. Aus gesundheitlicher, aber auch aus ökologischer Sicht.
Beispiel Streaming
Das gemeinsam gehörte Konzert gibt es zurzeit nicht. Die Sicherheitsbestimmungen lassen grössere Ansammlungen von Menschen nicht zu. In der Schweiz vorläufig bis Ende August. Viele Veranstalter setzen daher unterdessen auf digitale Formate, auf Streaming und Musikvideos.
Und mehr: Statt einfach ein Konzert abzufilmen sind diese Videos optisch teilweise ziemlich originell. Oder sie werden mit Musikvermittlungsangeboten angereichert. Wie das zum Beispiel das Sinfonieorchester Basel tut .
Das sind Pluspunkte zum herkömmlichen Konzert. Gleichzeitig aber befördern die oftmals kostenlosen Videos eine Gratismentalität. Warum sollte ich für ein Konzert noch bezahlen, wenn ich es online kostenlos hören kann?
Der Musikjournalist Hartmut Welscher glaubt auch, dass das Streaming von Konzerten viel weniger nachhaltig ist als «echte» Konzerte. Auch wenn einzelne Musiker dank der Vernetzung in den Social Media eine viel grössere Reichweite erzielen als zuvor.
Beispiel freie Musikerinnen und Musiker
Neben den staatlich subventionierten Sinfonieorchestern profitiert das klassische Musikleben stark von freien Ensembles. Von Musiker und Musikerinnen, die aus Eigeninitiative Musik machen. Aus Begeisterung, aber oft mit finanziell prekärem Einkommen. Hier wird es wahrscheinlich zu einer Ausdünnung kommen, vermutet Welscher.
Ensembles, die ein originelles Programm aufweisen, könnten überleben. Es könnte aber auch das Recht des Stärkeren gelten. Desjenigen, der lauter spielt und stärker auf sich aufmerksam macht. Eine Möglichkeit ist daher auch, dass nicht nur die originellsten Ensembles von der Krise profitieren, sondern vielleicht gerade die konventionellsten. Diejenigen, die für das grösste Publikum die beliebteste Musik spielen.
Warum profitieren nur grosse Orchester?
Für Welscher ist mit der aktuellen Pandemie ausserdem der Punkt gekommen, um über eine Zweiklassengesellschaft nachzudenken. Warum sollen nur grosse Sinfonieorchester von staatlicher Subvention profitieren und keine Streichquartette etwa. Oder Ensembles für moderne oder alte Musik? Politiker in Deutschland machen sich hierzu gerade Überlegungen.