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Folgen des Holocausts Die langen Schatten der Shoa

Auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende leiden nicht nur die Überlebenden unter den Folgen des Holocaust, sondern auch deren Kinder. Die «zweite Generation» trauert ebenso um ermordete Verwandte. Viele Familien haben das Leid tabuisiert.

Behutsam breitet Anita Winter den gelben Stern mit dem Aufdruck «Juif» aus. Das Stück Stoff erinnert an den Völkermord an den Juden, dem ihre Mutter nur mit viel Glück entkommen war. Es war ihr gelungen, mit gefälschten Papieren im besetzten Frankreich unterzutauchen. Ihr Vater konnte vor den Nazis in die Schweiz flüchten. Anita Winters Grossvater hingegen überlebte als einziger seiner Familie ein Massaker im damaligen Polen.

Anita Winter trauert auch mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs um die Ermordeten. Viele Einzelheiten erfuhr die 55-Jährige erst im Lauf der Zeit, oft nur dank eigener Recherchen. «Nachdem mein Grossvater gestorben war, fand ich Hinweise, dass er im KZ war. Aber er hat nie darüber gesprochen». Über die traumatischen Erlebnisse habe man kaum oder gar nicht gesprochen in der Familie, um sich nicht gegenseitig zu verletzen.

«Zudem habe ich meine eigenen Probleme immer an jenen der Eltern gemessen und relativiert», erklärt die Zürcher Geschäftsfrau. 2014 gründete Anita Winter die Stiftung «Gamaraal», welche sich für bedürftige Holocaust-Überlebende und die Aufklärung an Schulen einsetzt. «Ich fühle mich verpflichtet, über das, was unsere Eltern erlebt haben, zu sprechen, damit sich so etwas nie wiederholen kann».

Immer bereit sein zur Flucht

Auch die Kindheit war vom Holocaust überschattet. «Meine Mutter schärfte uns ein, zur Flucht bereit zu sein, bevor es zu spät ist und Schuhe und Mantel immer neben dem Bett in Griffnähe zu haben». Als Jugendliche habe sie kein Hochdeutsch sprechen und keine deutschen Kleider kaufen dürfen. Stets trägt Anita Winter ihren Schweizer Pass auf sich. «Wie sehr hätten meine Eltern ein solches Dokument damals benötigt. Dieser Ausweis gibt mir ein Gefühl von Sicherheit», erklärt die vierfache Mutter. Angst, der Holocaust könnte sich wiederholen, hat sie nicht. «Aber ich beobachte die politische Entwicklung genau und versuche, nicht naiv zu sein.»

Grossmutters letzter Brief

Auch Christine Friedmanns Biographie ist vom Holocaust geprägt. In ihrem Leben gab es ebenfalls ein Tabu: Mit ihrem Vater wagte sie nicht, über das zu sprechen, was dessen Familie erleiden musste unter dem Terror der Nazis. Während ihm, einem assimilierten Juden, 1939 noch rechtzeitig die Flucht aus Prag via Italien nach Indien gelungen war, wurden seine Mutter, Schwester und Nichte 1942 ermordet. «Ich wollte ihn nicht traurig machen. Hätte er darüber reden wollen, dann hätte er es wohl von sich aus getan, sagt die Zürcherin, die 1955 in Bombay zur Welt kam.

Sorgfältig faltet sie den Brief auseinander, den ihre Grossmutter in den letzten Tagen geschrieben hatte. Berührt liest Christine Friedmann aus dem Kassiber vor, den eine Bekannte ihrem Vater 1946 übergab: «Meine vielgeliebten Kinder, ich bin ganz ruhig und fahre mit dem festen Willen durchzuhalten. … Der liebe Gott segne Euch und schenk Euch eine glückliche Zukunft… Lebt alle wohl und seid innigst umarmt und geküsst von Eurer Euch treuliebenden Mama».

Da vieles unausgesprochen blieb in ihrer Familie, begann Christine Friedmann 2006 selber nachzuforschen. So erfuhr sie, dass ihre Grossmutter in Treblinka umkam, die Tante und deren Tochter in einem Vernichtungslager in Weissrussland. Eine Tante beging vor dem Transport Suizid.

«Ich finde es schrecklich, wenn Menschen verfolgt werden». Deshalb fühle sie sich Juden, aber auch den Flüchtlingen von heute besonders nahe.

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