SRF News: Wer wird der nächste Premierminister Kosovos?
Albin Kurti: Ich glaube, das bin ich. Wir sind nach diesen Wahlen die stärkste Partei Kosovos und haben unseren Anteil mehr als verdoppelt. Dies gegenüber einer Koalition mit 16 Parteien und einem weiteren Bündnis mit sieben Parteien, deren Lager alle an Kraft verloren haben. Dieses Wochenende haben wir eine Welle des Enthusiasmus in Kosovo ausgelöst.
Was möchten Sie als Ministerpräsident erreichen?
Sobald wir die Regierung übernehmen, wollen wir unsere 40 Prioritäten für Kosovo umsetzen. Dazu gehört ein eigenständiger Fonds, um den Wiederaufbau des Landes zu finanzieren und unserer Wirtschaft Schub zu verleihen. Das gilt besonders für den Abbau von Bodenschätzen, den Energie- und den Landwirtschaftssektor.
Wir brauchen auch eine Entwicklungsbank mit tieferen Zinsen als bisher. Die organisierte Kriminalität und die grassierende Korruption muss bekämpft werden. Besser ausgebildete Richter und Staatsanwälte sind nötig – und hier brauchen wir die Unterstützung der EU.
Wir werden die Nation nicht gegen die Gesellschaft ausspielen.
Sie werden als links-nationalistisch bezeichnet. Werden Sie wie ein Sturm alles durcheinanderbringen in der Region?
Wir sind links im Vergleich zur übrigen Polit-Szene, weil wir mit unserer Sozialpolitik die Ungleichheit beseitigen wollen. Denn Kosovo ist ein Land ohne Gesundheitsversicherung. Wenn heute jemand einen Unfall auf der Autobahn hat, gibt es eine Versicherung für das Fahrzeug, nicht aber für die Insassen. In diesem Umfeld wirken wir radikal links, sind aber eigentlich Mainstream-Linke.
Dazu tragen Sie die Etikette «nationalistisch».
Wir bezeichnen uns selbst nicht als Nationalisten im Sinne des Balkan-Nationalismus, der mit Krieg und Blutvergiessen verbunden ist. Wir glauben aber, dass die Nation in der Politik ein wichtiges Konzept und eine wichtige Idee ist. Das sollten wir nicht der Rechten überlassen.
Wir werden die Nation nicht gegen die Gesellschaft ausspielen. Wenn Leute unterschiedlicher Nationen zusammenkommen, ist dies eine Chance, das Gemeinsame zu nutzen – im Sinne sozialer Bindungen.
Wie wollen Sie den Dialog mit Serbien weiterpflegen?
Der Dialog mit Serbien wurde gestoppt. Denn es braucht zuerst einen Dialog über den Dialog: Wie wollen wir überhaupt reden miteinander? Grundsätzlich sind wir nicht gegen Gespräche, aber es gilt, Prinzipien einzuhalten.
Parallel dazu wollen wir Gespräche mit den Serben Kosovos beginnen – und zwar, indem wir ihnen nicht einfach als Serben begegnen, sondern in ihrer sozialen Rolle als Ärzte, Studenten, Taxifahrer, Schreiner, Arbeitslose, Männer und Frauen. Denn nicht alle Serben sind gleich, so wie auch nicht alle Albaner gleich sind.
Wir wollen mit den Serben in einem Dialog über die Entwicklung kooperieren. Ein «bottom up»-Ansatz. So sollen Bauern aller Bevölkerungsgruppen darüber diskutieren, wie sie die Böden besser nutzen können. Wir sollten Gespräche führen, um über unsere Entwicklung und Zukunft zu sprechen statt über Geschichte und Versöhnung.
Ich glaube nicht an einen Erfolg, wenn uns die internationale Gemeinschaft in unserem eigenen Land ersetzt.
In Belgrad regiert Präsident Aleksandar Vučić – auch mit dem Support der EU. Mit ihm müssten Sie zusammenarbeiten.
Serbien spielt ein Doppelspiel mit der EU und Russland. Wir wollen als Staat Kosovo der EU und der Nato beitreten. Ich denke, auch Serbien sollte der EU beitreten – und vielleicht irgendwann auch der Nato. Serbien sollte aber dieses Doppelspiel beenden. Das Land sollte sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Es gibt kein Bedauern über die Verbrechen der Vergangenheit.
Es ist wichtigt, dass Herr Vučić (Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić, Anm. d. Red.) dieses Thema angeht. Es reicht nicht, wenn er sagt: ‹Ich bin nicht mehr der Vučić von 1998›. Damals war er Informationsminister unter Milošević. Es geht darum, dass sich die serbische Gesellschaft damit auseinandersetzt, was in ihrem Namen vor nur zwanzig Jahre verbrochen worden ist.
Bald soll es zu den ersten Anklagen vor dem Kosovo-Spezialgericht in Den Haag wegen Kriegsverbrechen der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK kommen. Unterstützen Sie die Arbeit dieses Gerichts?
Die Gerichte Kosovos sollten sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Wir sind ein unabhängiges Land und brauchen die Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Aber ich glaube nicht an einen Erfolg, wenn uns die internationale Gemeinschaft in unserem eigenen Land ersetzt.
Noch viel wichtiger als die Kriegsverbrechen sind die «Friedensverbrechen» im ökonomischen Bereich. Die UNO, die EU und auch das Haager Tribunal haben sich mit Kriegsverbrechen auseinandergesetzt. Es haben sich also drei internationale Gerichte damit befasst, ich glaube nicht, dass ein viertes Gericht etwas Neues bringt.
Damit gehen Sie aber auf Konfrontationskurs.
Wir werden selbstverständlich den Dialog suchen. Aber ich muss festhalten: Sämtliche internationalen Richter waren in der Ausübung des Rechts mehr an der politischen Stabilität interessiert als an der Gerechtigkeit für die Menschen. Wir brauchen die Unterstützung der EU, aber wir brauchen keine fremden Staatsanwälte, die bloss ein, zwei Jahre bleiben. Wir selbst müssen die Träger und Initianten der Gerechtigkeit für die Menschen hier sein. Gerechtigkeit kann nicht importiert werden, lokale Gerechtigkeit kann bloss unterstützt werden.
Was erwarten Sie von der Schweiz und der grossen, kosovarische Diaspora in der Schweiz?
Die Schweiz hat Kosovo sehr unterstützt: Einerseits als Zufluchtsort vor und während des Kriegs, andererseits war Micheline Calmy-Rey die erste Aussenministerin der internationalen Gemeinschaft, die sich für die Unabhängigkeit Kosovos ausgesprochen hat. Das werden wir nie vergessen. Jetzt geht es darum, dass weniger Leute aus Kosovo in die Schweiz emigrieren. Zudem müssen mehr Investitionen der Diaspora und der Schweiz nach Kosovo fliessen.
Die Kosovaren in der Schweiz arbeiten hart, viele von ihnen sind erfolgreiche Geschäftsleute. Sie könnten eine Brücke zu einer stärkeren, ökonomischen Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Kosovo bilden.
Das Gespräch führten Georg Häsler und Idro Seferi.