Zur Jahrtausendwende war Deutschland ein anderes Land. Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU hiess Edmund Stoiber. Haudegen wie Christian Ziege und Jens Jeremies verteilten im Trikot der DFB-Auswahl Blutgrätschen. Gerald Asamoah kämpfte als erster dunkelhäutiger Nationalspieler um Anerkennung.
Das «Sommermärchen» der Heim-WM 2006, das den Mief der alten BRD abstreifte, war noch weit weg. Und wer in seinem Garten die Nationalflagge hisste, geriet unter Verdacht – zu Deutsch war Deutschland, um patriotische Gefühle zu hegen.
Mitten in die bundesdeutsche Behaglichkeit brach damals Rita Süssmuth: «Deutschland ist ein Einwanderungsland!», erklärte die CDU-Politikerin. Unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder hatte Süssmuth den Vorsitz der neuen Zuwanderungskommission übernommen. Im Auftrag der rot-grünen Regierungskoalition sollte sie Vorschläge für ein Einwanderungsgesetz ausarbeiten.
Angela Merkel, damals CDU-Vorsitzende, warf ihr deswegen «parteischädigendes Verhalten» vor. Die Union blockierte ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild, das klare Kriterien für eine geordnete Einwanderung definieren sollte.
«Damals schlug mir die Haltung entgegen», erinnert sich Süssmuth im Gespräch mit Radio SRF, «dass Deutschland kein Einwanderungsland ist – also brauche es auch kein Einwanderungsgesetz.»
Wir brauchen eine geordnete Zuwanderung. Schaffen wir das? Oder wird die Zahl der brennenden Heime zunehmen?
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise meldete sich Süssmuth, bald 80-jährig, zurück: «Wir wären heute deutlich weiter und besser auf den Zustrom von Einwanderern vorbereitet, wenn sich die Politik damals hätte einigen können. (…) Die Haltung der CDU/CSU hat sich über die Jahre wenig geändert», beklagte sie in der «Wirtschaftswoche».
Nach den Erfahrungen des massiven Zustroms an Flüchtlingen und Migranten erneuert Süssmuth ihre Kritik: Mit einem Einwanderungsgesetz hätten lange nicht alle Ankömmlinge durch den Asylprozess geschickt werden müssen. Es dauere heute viel zu lange, bis die Verfahren abgewickelt seien und die Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten.
Späte Einsicht in Berlin?
Nun hat der Wind in Berlin gedreht, glaubt Süssmuth: «Ich gehe nach all den Jahren davon aus, dass wir nun ein Einwanderungsgesetz zustande bringen». Ein solches findet mittlerweile breite politische Unterstützung, auch die CDU/CSU hat es in ihr Programm geschrieben.
Es ist Zeit, verantwortlich und vernünftig zu handeln, wobei die Belange der sogenannt ‹Einheimischen› und ‹Hinzugekommenen› gerecht berücksichtigt werden müssen.
Süssmuth plädiert dabei für ein Gesetz, das zwischen Asylsuchenden und Arbeitskräften, die Deutschland dringend brauche, unterscheidet: «Wir müssen auf die Potenziale schauen und nicht nur ständig auf die Kosten.» Süssmuth hofft, dass die migrationskritische CSU das Gesetz in allfälligen einer Jamaika-Koalition nicht torpediert: «Natürlich gibt es Vorbehalte. Aber wir sind gemeinsam aufgefordert, Probleme bei der Zuwanderung zu lösen.»
Dass es Probleme bei der Zuwanderung gibt, bestreitet Süssmuth nicht. Und auch hier sieht sie die etablierten Parteien in der Pflicht. Die Sorgen und Ängste im Umgang mit dem «Fremden», auch mit Muslimen, müssten ernst genommen werden, so die langjährige Bundestagpräsidentin: «Die Politik kann nicht so tun, als hätte sie schon alle Lösungen parat.»
Wir sind davon ausgegangen, dass die Menschen merken, dass uns Arbeitskräfte fehlen und da Leute mit Potentialen kommen.
Eine Diskussion ohne Scheuklappen
Mit Radikallösungen ging derweil die AfD auf Stimmenfang. Einen derart triumphalen Einzug in den Bundestag hätte Süssmuth den Rechtspopulisten aber nicht zugetraut. Nun müsse man der Herausforderung mit «gutem demokratischem Engagement» entgegentreten.
Die etablierten politischen Kräfte hätten das Thema Zuwanderung zwar nicht unterschätzt, «die Tücke liegt aber bei den Ängsten der Menschen. (…) Wir haben nicht gut genug zugehört und erklärt.»
Abschliessend fordert Süssmuth eine Diskussion über das Reizthema, die Chancen und Ängsten gleichermassen Rechnung trägt: «Wir müssen die Frage klären: Werden wir in Europa mit unterschiedlichen Kulturen zusammenleben können, wenn immer mehr ‹Fremde› zu uns kommen?»