Die Wahl des Vizepräsidiums ist normalerweise eine Formalität im deutschen Bundestag. Normalerweise. Doch was ist schon «normal» in einer Zeit, da eine Partei rechts von der CSU in den Bundestag zieht – und dort «Jagd» auf die amtierende Kanzlerin machen will, wie es AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland am Wahlabend, berauscht vom eigenen Erfolg, ankündigte?
Heute nun zog die Rechtspartei nicht nur rhetorisch, sondern auch physisch in den Bundestag ein. Für viele Abgeordnete war das zu viel Nähe: Keiner wollte neben der AfD-Fraktion sitzen.
Dann folgte ein Eklat mit Ankündigung: Alle Kandidaten für das Bundestagspräsidium wurden im 1. Wahlgang klar gewählt. Alle, bis auf den Kandidaten der AfD. Er holte bis in den dritten Wahlgang nur wenige Stimmen über die eigene Partei hinaus; der Sitz der AfD im Bundestagspräsidium bleibt vorerst unbesetzt.
Wie hältst du’s mit den Grundrechten?
Dem 75-jährigen Albrecht Glaser wird von vielen Abgeordneten eine islamfeindliche Haltung vorgeworfen, die nicht mit der Verfassung vereinbar sei. Stein des Anstosses war eine Rede an einer AfD-Veranstaltung vom April:
Der Islam ist eine Konstruktion, die selbst die Religionsfreiheit nicht kennt und die sie nicht respektiert. Und die da, wo sie das Sagen hat, jede Art von Religionsfreiheit im Keim erstickt. Und wer so mit einem Grundrecht umgeht, dem muss man das Grundrecht entziehen.
Erinnerungen an 2005
Eine Premiere war die heutige Nicht-Wahl allerdings nicht. Schon in den 00er-Jahren hatten die Bundestagsfraktionen das Erstarken einer populistischen Partei zu verkraften – die ebenfalls einen hoch umstrittenen Kandidaten portierte: Lothar Bisky, vom damaligen Linkspartei-Chef Gregor Gisy als «würdiger Mann» für das Amt vorgestellt, fiel in vier Wahlgängen durch.
Erst ein halbes Jahr später wurde der vakante Posten besetzt – durch eine Ersatzkandidatin. Bisky sah sich unter anderem mit Stasi-Vorwürfen konfrontiert, die ein überparteiliches Agieren im Bundestag verunmöglichen würden.
Der Bundestag wird durchgeschüttelt
Seit der damalige Bundeskanzler Schröder die Sozialdemokratie mit der «Agenda 2010» politisch «eingemittet» hat, gebärdet sich «Die Linke» als die wahre Arbeiterpartei.
Nun will die AfD der Union aus CDU/CSU vom rechten Rand das Wasser abgraben. Und, wie die Bundestagswahl gezeigt hat, konnte sie bis weit ins (eigentlich) linke Wählerlager Stimmen holen.
Trotz (oder gerade wegen) dem Wählerzuspruch: Ein freundlicher Empfang im Bundestag war der AfD nicht beschieden, blickt SRF-Korrespondent Peter Voegeli auf ihren ersten Tag im Bundestag zurück.
Mit der Nicht-Wahl ihres Kandidaten für das Bundestagspräsidium hätten sich die etablierten Parteien aber nicht rechtswidrig verhalten:
Es ist wie bei einer Bundesratswahl in der Schweiz: Die Höflichkeit gebietet, den vorgeschlagenen Kandidaten zu wählen. Aber die Abgeordneten müssen das nicht. Sie sind ihrem Gewissen verpflichtet.
Schon am Vormittag hatte sich die AfD bitterlich beklagt, dass nicht der älteste (Albrecht Glaser), sondern der amtsälteste Abgeordnete die Eröffnungsrede halten sollte. So etwas habe es noch nie gegeben, meinte Bernd Baumann, Geschäftsführer der AfD. Bis auf eine Ausnahme:
1933 hat Hermann Göring die Regel gebrochen, weil er politische Gegner ausgrenzen wollte. Damals (die Sozialistin, Anm. der Red.) Clara Zetkin.
Schlüpft die AfD in die Märtyrerrolle?
Voegeli geht davon aus, dass die AfD die «Wahlverweigerung» nun publikumswirksam ausschlachten will. «Das macht sie ja immer. Wenn die Parteien die AfD nur auf prozeduralem Weg, mit Geschäftsordnungsanträgen, in die Schranken weisen, würde sie sich auch zu Recht beklagen.»
Die Redner der anderen Parteien hätten heute aber mehrfach erwähnt, dass die AfD genauso demokratisch legitimiert sei wie der Rest der Bundestagsfraktionen. Man wolle eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rechtspartei führen. Der SRF-Korrespondent zieht ein amerikanisches Bonmot heran:
Wer die Hitze nicht verträgt, soll nicht in die Küche.
Und wie die AfD heute mit ihrem Göring-Vergleich gezeigt habe, koche auch sie heiss: «Unter den Nazis wurden 96 oppositionelle Abgeordnete in Konzentrationslagern umgebracht. Heute erhält die AfD, wie alle anderen Parteien auch, viele Millionen staatlicher Fördergelder.»
Wir sind mit einer Fraktion konfrontiert, die sich heute nicht mal entblödet hat, sich in eine Reihe zu stellen mit den Opfern des Nationalsozialismus. Dies war in einem Haus, das die Nazis mal niederbrennen liessen, ziemlich geschmacklos.
Abschliessend geht Voegeli davon aus, dass nach der eher drögen Debattenkultur unter der Grossen Koalition ein schärferer Wind im Bundestag wehen wird. Und das sei auch gut so: «Die Auseinandersetzung wird schärfer und konturierter. Dafür war der Bundestag auch immer berühmt – und auch ein bisschen berüchtigt.»