2011 stürzte der «Arabische Frühling» die autoritären Regime in Ägypten und Tunesien, in Libyen begann der Anfang vom Ende des Alleinherrschers Gaddafi. Auch in Marokko ging eine ganze Generation auf die Strasse: Frustrierte junge Menschen forderten mehr demokratische Mitsprache – und eine Perspektive.
König Mohammed reagierte mit Neuwahlen und brachte eine Verfassungsreform auf den Weg. Marokko blieb für viele Beobachter ein Hort der Stabilität. Und: Der Maghreb-Staat vereint moderaten Islamismus und Demokratie. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere verarmte Regionen im Land ein Rekrutierungsbecken für Dschihadisten sind.
Der Frust entlädt sich
In jüngster Zeit ist die Unzufriedenheit erneut aufgeflammt. Diesmal unter wirtschaftlich vernachlässigten Berbern in der nördlichen Rif-Region – so auch in der Stadt Al-Hoceima, die bereits ein Brennpunkt der Massenproteste von 2011 war.
Angeheizt wurde der Aufruhr durch den grausamen Tod eines Fischverkäufers im vergangenen Oktober. Er starb in der Presse eines Müllwagens, als er versuchte, Behördenmitarbeiter daran zu hindern, seine Ware zu zerstören.
Die Führungsriege hat es geschafft, die jungen Leute zu beruhigen.
Die Demonstranten prangern die Korruption im Land an, und fordern Verbesserungen der Infrastruktur: «Sie wollen bessere Schulen, Strassen oder Spitäler und Arbeitsplätze», sagt Maghreb-Experte Beat Stauffer. Damit unterschieden sich die Forderungen der meist jungen Demonstranten kaum von denjenigen in anderen unterprivilegierten Regionen des Landes, so der Journalist.
Die Regierung versuchte zuerst zu verhandeln, reagiert nun aber mit harter Hand: Mit der Festnahme der wichtigsten Führungsfigur, Nasser Zefzafi, haben die Proteste an Intensität gewonnen: «Wir sind alle Zefzazi», skandieren seither viele Demonstranten und fordern seine Freilassung. Zuletzt riefen zahlreiche Händler und Handwerker einen dreitägigen Generalstreik aus.
Nach Zefzafis Verhaftung wegen «Gefährdung der nationalen Sicherheit» erreichten die Proteste auch die Grossstädte Rabat und Casablanca: «In der Hauptstadt Rabat ist für Sonntag eine Grossdemonstration angekündigt», so Stauffer.
Die «rote Linie» überschritten
Zefzafi, ein 39-jähriger Arbeitsloser, war in den vergangenen Monaten zum Gesicht der Protestbewegung geworden. Zum Verhängnis wurde ihm, wie Stauffer schildert, dass er eine «rote Linie» überschritt: Zefzafi kritisierte, zumindest implizit, das herrschende System: «Während des Freitagsgebets entriss er dem Imam das Mikrofon und beschimpfte ihn gewissermassen als Handlanger des Regimes.»
Die Attacke auf die religiöse Autorität war – für den Staatsapparat – auch eine auf den König: «Er ist in Marokko der oberste Imam. Diese Handlung hat das Fass zum Überlaufen gebracht.»
Riskantes Manöver der Regierung
In einer der Hochburgen der Proteste, Al-Hoceima, blieben die Proteste bislang zwar weitgehend gewaltlos. In anderen Dörfern und Städten, schildert Stauffer, drohen sie in «blinde Gewalt» umzuschlagen: «So wie man es in anderen Regionen des Maghreb immer wieder antrifft.»
«Die Strategie der Regierung, die Unruhen zu unterdrücken, ist riskant», sagt Stauffer. Denn die Protestbewegung sei nun zwar führerlos, deswegen aber nicht auf dem Rückzug. Im Gegenteil: Es fehlt nun an Figuren, die mässigenden Einfluss auf die wütende Jugend nehmen könnten: «Die Lage könnte weiter eskalieren», schliesst Stauffer.
Zusammenstösse bei Protesten
In der Nacht zum Samstag ist es im Norden Marokkos erneut zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. In der Stadt Imzouren riegelte die Polizei das Stadtzentrum ab. Vermummte Jugendliche warfen Steine auf die Beamten, die Polizei setzte Tränengas ein. Auch in Al-Hoceima, der Hochburg der Proteste, gingen am Freitagabend bis zu 2000 Menschen auf die Strasse. Dort blieb es jedoch friedlich. |