Der Generalstreik in Kolumbien ist am Donnerstag teilweise in Zusammenstösse zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften ausgeartet. Die meisten der rund 200'000 Protestierenden verhielten sich jedoch friedlich. Was der Streiktag bringen kann und ob jetzt Dauerproteste drohen, weiss ARD-Südamerika-Korrespondent Ivo Marusczyk.
SRF News: Wie erfolgreich verlief der Generalstreik, zu dem rund 40 Organisationen aufgerufen hatten?
Ivo Marusczyk: Trotz des Generalstreiks waren viele Läden geöffnet, auch der öffentliche Verkehr kam nicht vollständig zum Erliegen. Die Demonstrationen selber waren allerdings beeindruckend, im ganzen Land waren wohl Hunderttausende auf den Strassen. Allein in Bogotá gab es 26 Kundgebungen.
Die Protestierenden eint die Wut auf Präsident Duque.
Wer stand hinter dem Streikaufruf?
Es waren verschiedene Gruppen wie Gewerkschaften, Studentengruppen oder Indigenenverbände. Ihre Anliegen sind völlig unterschiedlich – doch sie alle eint die Wut auf die Regierung von Präsident Ivàn Duque.
Wie hat der kritisierte rechtskonservative Präsident reagiert?
Überraschenderweise sagte Duque, dass er einige der Forderungen für berechtigt halte. Kolumbien habe viele uralte Probleme, die noch immer nicht gelöst seien – aber man arbeite daran. Dem Präsidenten scheint also bewusst zu sein, dass in Kolumbien nicht alles zum Besten steht. Allerdings blieb er sehr vage.
Eine Hauptforderung der Demonstranten ist die Umsetzung des Friedensvertrags von 2016. Was sagte Duque dazu?
Nichts. Auf diesem Ohr scheint Duque ziemlich taub zu sein. Er hatte die Wahlen im vergangenen Jahr mit dem Versprechen gewonnen, den in seinen Augen gegenüber der Rebellenorganisation Farc zu nachgiebigen Vertrag so hart wie möglich umsetzen zu wollen.
Die Kritik am Friedensvertrag bleibt Duques erklärte Politik.
Duque warf seinem Vorgänger, dem Friedensnobelpreisträger Manuel Santos, vor, den Rebellen zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben. Jetzt versucht Duque, dem Vertrag etwas Kanten zu geben, etwa indem er die Regeln der Sondergerichtsbarkeit zu verschärfen versucht. Allerdings ist ihm das Parlament dabei nicht gefolgt. Trotzdem bleibt die Kritik am Friedensvertrag seine erklärte Politik.
Was bringt der gestrige Generalstreik unter dem Strich?
Ob er überhaupt etwas Konkretes bringt, wird man sehen müssen. Auf jeden Fall werden die Probleme im Land jetzt stärker wahrgenommen. Die Indigenen gehen ja auch deshalb auf die Barrikaden, weil viele ihrer Anführer brutal ermordet werden.
In den letzten Jahren wurden Dutzende indigene Häuptlinge und Dorfvorsteher von Kriminellen ermordet.
So haben in vielen Regionen Kolumbiens, in denen vorher die Rebellen die Kontrolle ausübten, jetzt Verbrecherbanden das Sagen. Wenn ein Dorfvorsteher oder ein Häuptling einer indigenen Gemeinschaft dagegen aufmuckt, ist er in Lebensgefahr. In den letzten Jahren sind Dutzende von ihnen ermordet worden, ohne dass die Regierung in der Lage wäre, etwas dagegen zu unternehmen. Wenn dieses Problem landesweit jetzt stärker wahrgenommen wird, hat der Generalstreik schon etwas gebracht.
Drohen Kolumbien angesichts der vielen Probleme im Land jetzt länger andauernde Proteste?
Es könnte tatsächlich dazu kommen, dass Kolumbien zum nächsten Unruheherd in Südamerika wird. So drohte ein führender Senator der Opposition mit andauernden Protesten im Land, falls Duque nichts ändern sollte.
Das Gespräch führte Jonathan Fisch.