SRF News: Sie sind in Äthiopien des Landes verwiesen worden. Wie gerät ein Schweizer Wissenschafter auf den Radar der äthiopischen Regierung?
Dazu braucht es eigentlich nicht viel, es gibt sehr wenige Institutionen oder Individuen, die in Äthiopien zu politischen Geschehnissen forschen. Von diesem Moment an, in dem man zu kritische Forschungen macht und sich exponiert und international publiziert, ist man auf dem Radar der äthiopischen Regierung. Das heisst nicht, dass man sofort des Landes verwiesen wird. Aber es werden einem Steine in den Weg gelegt, es wird Druck gemacht, die Informanten werden bedroht, es wird ein schwieriges Umfeld geschaffen, um politische Forschungen voranzutreiben.
Haben Sie denn Kritik geübt?
Es ist schwierig in Äthiopien zu politischen Ereignissen zu forschen und nicht kritisch zu sein. In jedem autoritären Regime ist ein Abweichen von der Regierungslinie automatisch schon Kritik.
Autoritäre Einparteiensysteme wie in Äthiopien konditionieren ihre Bürger zum So-tun-als-ob, haben Sie kürzliche geschrieben. Gemeint ist damit, dass die Menschen so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Tun sie das aus Angst?
Ja. Aber auch, weil sie überleben müssen und weil sie auch auf Dienstleistungen des Staates angewiesen sind, sei das auf eine Identitätskarte, die von den lokalen Behörden ausgestellt wird oder auf die Schule, auf die Gesundheitsversorgung. Es ist eine Mischung zwischen Angst und Überlebenswille.
In einer Situation von So-tun-als-ob ist Gehorsam die Norm.
Zeigen die aktuellen Demonstrationen aus Ihrer Sicht, dass die Menschen teilweise die Angst abgelegt haben?
Ja, auf jeden Fall. Das ist das Spannende und das Unberechenbare an diesen Ereignissen. Wie auch Ende des letzten Jahres, als es massiven Proteste gegen den Masterplan in Addis Abeba gab. Und auch teilweise im Jahr zuvor, als es Proteste von muslimischen Gemeinschaften gab. In einer Situation von So-tun-als-ob ist Gehorsam die Norm. Da muss man sich fügen. Es gibt aber immer wieder Momente, in denen der Gehorsam aufbricht und die Menschen sich zu protestieren getrauen. Sie tun dies im Wissen, dass die Proteste sehr systematisch und sehr brutal niedergeschlagen werden. Diese Proteste werden aus einer gewissen Verzweiflung heraus durchgeführt. Wenn es keine anderen Kanäle gibt, als auf der Strasse zu protestieren, ist das ein Indikator für eine Destabilisierung des Landes.
Äthiopien wird via Entwicklungshilfe von internationalen Geberländern grosszügig mit Krediten versorgt. Kritik wäre da angebracht.
Entweder machen Sie mit oder Sie machen nicht mit. Wenn Sie in Äthiopien Hilfe leisten wollen, dann müssen Sie sich der Regierung fügen. Dann können Sie nicht politisch arbeiten. Es gibt ein Gesetz, das den Handlungsspielraum von Entwicklungsorganisationen festlegt. Kritik ist auf jeden Fall angebracht, aber nicht nur an der äthiopischen Regierung, sondern auch an den Geberländern, die mit ihrer Hilfe seit Jahrzehnten mitunterstützt haben und sich bewusst sind, dass dies ein autoritäres Regime ist, das ihren Grundsätzen von Demokratie und Menschenrechten, widerspricht.
Es gibt ein Gesetz, das den Handlungsspielraum von Entwicklungsorganisationen festlegt.
Wenn der Westen massiv Kritik üben würde, würde sich die Situation zum Bessern wenden?
Das ist eine gute Frage. Die Antwort kann Ihnen niemand geben. Die äthiopische Regierung hat bis jetzt jegliche Kritik abgelehnt. Sie hat gesagt, wenn es euch nicht passt, dann geht. Wenn die Entwicklungsorganisationen nun eine gemeinsame Position finden würden und damit drohen würden, die Gelder zu kürzen, ist unklar, was geschehen würde, insbesondere in der derzeitigen innenpolitischen Situation. Es ist nie ganz klar ist, wieviel Macht der Premierminister besitzt. Die Entscheidungsprozesse innerhalb der Regimes sind undurchsichtig. Man weiss nicht, ob sich die mehr politische Seite des Premierministers oder die mehr militärische Seite der ehemaligen Rebellen durchsetzen kann.
Zeigt sich am Beispiel Äthiopien quasi exemplarisch, was viele Sozialwissenschaftler seit Jahren aufzeigen: Hilfsgelder stärken bestehende Herrschaftssysteme?
Das ist auf jeden Fall so. Die empirische Forschung zeigt: Externe Hilfe stützt immer das Regime vor Ort. Ist eine demokratische Regierung an der Macht, wird die Demokratie gestärkt, wenn es ein autoritäres Regime ist, wird dieses gestützt. Diese naive Idee, dass durch externe Hilfe quasi automatisch Demokratie entstehen wird, hat sich nicht bewahrheitetet.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.