Choreograph und Tänzer Erdem Gündüz hat der Protestbewegung in der Türkei eine neue Form gegeben. Als «stehender Mann» (türkisch: duran adam) verharrte er mehr als sechs Stunden auf dem Taksim-Platz, den Blick auf das zum Abriss vorgesehene Atatürk-Kulturzentrum und ein Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk gerichtet. Polizisten, die den stehenden Mann durchsuchten, zogen zunächst ratlos ab.
Faktor Social Media
Die Nachricht des Protests verbreitete sich in der Nacht zum Dienstag unter dem Hashtag #duranadam rasend schnell über den Kurznachrichtendienst Twitter und fand viele Nachahmer. Denn nach fast drei Wochen brutaler Polizeieinsätze kann sich die türkische Protestbewegung inzwischen kaum noch zu grossen Kundgebungen versammeln.
Dafür wurde in den vergangenen Tagen das abendliche «Volksorchester» laut. Dabei schlagen die Gegner der islamisch-konservativen Regierung aus Wohnungsfenstern gegen Töpfe oder bringen die Teetassen in den Cafés zum Klirren.
Viele Demonstranten haben sich dem Prostest von Künstler Gündüz angeschlossen. Auf dem Taksim-Platz standen am Dienstag dutzende Männer und Frauen. Ein Junge hatte ein Buch aufgeschlagen und das Gesicht in einen Schal gewickelt. In der Nacht standen bald mehr als 200 Menschen still auf dem Taksim-Platz. Schliesslich griff die Polizei doch ein und nahm einige stille Protestierer in Gewahrsam.
Der Vorwurf lautete auf Widerstand gegen die Polizei durch gewaltloses Herumstehen, wie die liberale Zeitung «Radikal» berichtete. Trotzdem – ein still stehender Mann bietet der Polizei kaum Angriffsfläche. Auch in Ankara und Izmir liessen sich Menschen von dem Protest inspirieren.
Neue «Waffe» der Polizei
Immer brutaler ist die Polizei in den vergangenen Tagen gegen die Demonstranten vorgegangen. Dem Wasser aus den Wasserwerfern sei zuletzt eine heftig auf der Haut brennende Substanz beigemischt worden, die Verletzungen wie nach einer Verbrennung erzeuge, erklärten Ärzte.
«Die Regierung muss umgehend die Einsatztaktik der Polizei ändern und eine klares Signal für Zurückhaltung geben», forderte Human Rights Watch. Exemplarisch nennt die Organisation Übergriffe der Polizei auf das ganz in der Nähe des Taksim-Platzes gelegene «Alman Hastanesi» (Deutsches Spital).
Augenzeugen und Videoaufnahmen belegen, dass die Polizei den Eingang zur Notaufnahme mit Tränengas und einem Wasserwerfer angegriffen hat. Ein Verletzter wurde bis ins Spital verfolgt. Und während ein Beobachter der Organisation die Lage prüfte, habe die Polizei Tränengas auf eine Terrasse im ersten Stock des Gebäudes gefeuert.
Erdogan lässt allerdings keine Kritik an wegen unverhältnismässiger Härte der Polizei gelten. Der Einsatz von Pfefferspray sei das «natürlichste Recht» der Polizei, wenn Anordnungen nicht befolgt würden, meint der Ministerpräsident, dessen autoritärer Regierungsstil wesentlich zu den Auslösern der Proteste gehörte.