SRF News: Joe Schelbert, Sie berichten für Radio SRF seit Jahren über die österreichische Politik, haben Sie solche Wahlen schon erlebt?
Joe Schelbert: Nein. Ich habe schon knapp ausgegangene oder umkämpfte Wahlen erlebt, aber eine Wahl über vier Runden ist wirklich neu. Die Annullierung der Stichwahl, die das oberste Gericht angeordnet hat, war eine Riesenüberraschung. Eigentlich hat man in Österreich immer schon ein bisschen schlampig ausgezählt. Aber es gab nie den Vorwurf, dass betrogen worden sei. Das oberste Gericht sagte dann: «Jetzt ist genug geschlampt. Wir wiederholen die ganze Geschichte.» Ich behaupte, dass es ihm dabei auch darum ging, den Ruf der österreichischen Justiz zu retten. Das ist einzigartig.
Dem obersten Gericht ging es auch darum, den Ruf der österreichischen Justiz zu retten.
Ist es eine Richtungswahl?
Ja. Es geht nicht nur darum, ob ein Mann von einer Rechtsaussen-Partei, der FPÖ, direkt vom Volk zum Präsidenten gewählt wird, sondern ob der österreichische Nachkriegskonsens aufgehoben wird. Norbert Hofer von der FPÖ will ein ganz anderer Präsident sein. Er will die Macht des Präsidenten, die er verfassungsmässig hätte, ausnützen. Er sagt, wenn die Regierung dem Land schade, werde er sie entlassen. Wer aber würde entscheiden, was dem Land schadet? Es wäre Hofer – und das wäre sehr heikel. Der Grüne Alexander Van der Bellen möchte das Amt hingegen im Sinne der bisherigen Präsidenten ausführen – also moderierend eingreifen und eine moralische Autorität sein, sich aber nicht in die Regierungsgeschäfte einmischen.
Könnte der aggressive Ton im Wahlkampf den Umgangston in der österreichischen Politik nachhaltig prägen?
Ja, und das hat es schon. Die FPÖ hat in den letzten Jahrzehnten, zuerst unter Jörg Haider, jetzt mit Heinz Christian Strache und auch mit Norbert Hofer als Präsidentschaftskandidat, einen sehr rüden Ton in die politische Debatte gebracht: beleidigend, verächtlich, teils rassistisch. Das hat sich von Wahlkampf zu Wahlkampf gesteigert.
Das Rennen ist völlig offen. Sicher ist, dass es knapp wird.
Aber die FPÖ war mit diesem Ton nicht immer erfolgreich: Die Wahl in Wien vom letzten Herbst verlor sie – trotz der Flüchtlingshetze. Deshalb ist Norbert Hofer in den letzten Wochen ein bisschen milder geworden. Offenbar hat er gemerkt, dass er mit seinem rüden Ton bürgerliche Wähler, auf die er für einen Sieg angewiesen ist, vor den Kopf stösst.
Gab es im Wahlkampf auch klare inhaltliche Positionen?
Erfreulicherweise ging es im Wahlkampf nicht nur um gegenseitige Beleidigungen. Es gab auch klare Positionen, etwa die erwähnte Rolle des Präsidenten. Auch in der Flüchtlingsfrage bezogen die Kandidaten Stellung: Während Hofer Grenzen und Zäune fordert, setzt Van der Bellen auf die Lösungssuche mit Nachbarstaaten. Er hat auch klar gemacht, dass Österreichs Zukunft in der EU liegt, während Hofer immer wieder mit dem «Öxit» spielt. Einmal sagte er, «austreten», dann «nicht austreten». Er spielt immer mit dem, was in der Volksgunst gerade Konjunktur hat.
Zeichnet sich schon ab, wer am Sonntag gewählt wird?
Nach Umfragen steht es 50:50, es ist also völlig offen. Sicher ist, dass das Rennen knapp wird. Bei der aufgehobenen Stichwahl hatte Van der Bellen nur 30‘000 Stimmen Vorsprung auf Hofer, bei einer Stimmbeteiligung 4,5 Millionen Wählern. Gewinnen wird der, der am besten mobilisieren kann. Im Mai waren 73 Prozent der Stimmberechtigten Österreichs an die Urnen gegangen. Inzwischen sind die Leute vom langen Wahlkampf müde – deshalb dürften es am kommenden Sonntag weniger sein. Die Frage ist nur, auf welcher Seite es weniger sein werden.
Das Gespräch führte Eliane Leiser.