Die Freien Demokraten haben an diesem Wochenende Parteichef Christian Lindner mit 93 Prozent zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl gewählt. Sie haben ein klassisches FDP-Wahlprogramm verabschiedet und – das Wichtigste: Die Stimmung ist sehr gut, weil die Umfragewerte deutlich gestiegen sind.
Zu Beginn der Coronakrise vor einem Jahr hatte sich die FDP in den Umfragen bedrohlich der Fünf-Prozent-Marke genähert und drohte damit bei der Bundestagswahl aus dem Parlament zu fliegen. Diese Angst ist vorbei.
Auf «Schweizer Kurs»
Im Zusammenhang mit der deutschen FDP stellt sich die Frage: Wie viel Schweiz steckt in Deutschland? Pauschal lässt sich das nicht beantworten, aber in Zeiten von Corona – und nur dann – lässt sich eine knackige These vertreten: elf Prozent. Auf ungefähr elf Prozent kommt die deutsche FDP bei den aktuellen Umfragen. Und während der Pandemie haben die deutschen Liberalen einen Kurs vertreten, der in etwa demjenigen der Schweizer Coronapolitik entspricht.
Die FDP verneinte die Gefahren von Corona nicht, vertrat aber die Meinung, die Gesundheit sei nicht das einzige und oberste Kriterium. Es gelte auch das wirtschaftliche Überleben von Unternehmen und Familien oder die psychische Gesundheit von Kindern angemessen zu berücksichtigen. Sie sprach sich für massgeschneiderte und differenzierte Lösungen aus. Und stand damit weitgehend allein auf weiter Flur.
Die Naturwissenschaftlerin und Kanzlerin Angela Merkel lieh ihr Ohr vor allem Virologen, auch wenn sie sich nicht immer durchsetzen konnte. Dennoch: Deutschland ging monatelang in einen Teil-Shutdown, wesentlich härter als in der Schweiz.
Die Grosse Koalition erhielt dafür sogar die Unterstützung der Opposition, der Grünen und der Linkspartei; die AfD verfolgte weder eine kohärente noch eine konstruktive Linie. Und eine klare Mehrheit der deutschen Bevölkerung befürwortet diese Politik oder wünscht sich sogar härtere Massnahmen.
Unterschiedliche Kultur
Warum diese Unterschiede in zwei benachbarten Ländern, die auch viele Gemeinsamkeiten haben? Zwei pointierte Erklärungsversuche: In Deutschland hat die Gesundheit einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Mit Verweis auf die Gesundheit sind die Deutschen zu vielen Einschränkungen bereit. Etwa so wie in der Schweiz die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger fast immer zu überzeugen sind, wenn es heisst, eine Vorlage hätte Auswirkungen auf ihr Portemonnaie oder die Wirtschaft.
Die Regierung Merkel reagierte mit pauschalen Massnahmen auf das Coronavirus. Der Föderalismus wurde als untauglich wahrgenommen, obwohl er vor allem untauglich praktiziert wurde. Stichwort: Endlose nächtelange Ministerpräsidenten-Runden mit minimalen Ergebnissen.
Die These sei gewagt, dass dem pauschalen Vorgehen nicht nur eine gesundheitspolitische, sondern auch eine erzieherische Absicht zugrunde lag. Tausend Einzelregelungen hätten, so vielleicht die Furcht der Kanzlerin, der Bevölkerung den Ernst der Lage nicht genügend klargemacht.
Das heisst nicht, dass Schweizerinnen und Schweizer vernünftiger wären. Es heisst, dass in beiden Ländern eine ganz unterschiedliche Kultur herrscht.
Und auch die Freien Demokraten, die FDP, um an den Anfang zurückzukehren, wird in Deutschland traditionell eben nicht nur als Wächterin liberaler Ideen gesehen, sondern auch als Partei, die vor allem ihre Klientel, Anwälte, Ärzte usw. bedient. Dieser Eindruck ist – vielleicht zu Unrecht – zu stark verbreitet, aber durch ihre Politik auch selbst verschuldet.