Die Insel Utøya im Tyrifjord: Am Festlandufer, nur wenige 100 Meter von der kleinen Insel entfernt, spielen Kinder am Wasser des Fjordes, in dem sich die umliegenden bewaldeten Hügel und die hochstehende Juli-Sonne spiegeln.
Fast genau so sah es hier vor einem Jahrzehnt aus. Wie jeden Sommer seit den 1950er-Jahren befanden sich Hunderte Kinder und Jugendliche auf der Insel, im traditionellen Sommerlager des sozialdemokratischen Jugendverbandes AUF.
Terrorist als «Freund und Helfer» verkleidet
Am 22. Juli 2011 um 17 Uhr setzte ein Mann in Polizeiuniform mit der Fähre auf die Insel über und rief die Lagerteilnehmer zusammen, um – so erklärte er – über den Bombenanschlag zu informieren, der zwei Stunden zuvor im Zentrum von Oslo stattgefunden hatte.
Überlebende berichten davon, wie der als Polizist verkleidete Terrorist in diesem Moment das Feuer auf die Kinder eröffnet – und damit über eine Stunde lang nicht mehr aufhört.
Was dann passierte, erzählt Stine Furan, die im Informationszentrum die Berichte dieses blutigsten Tages der neueren norwegischen Geschichte zusammengetragen hat: «Überlebende berichten davon, wie der als Polizist verkleidete Terrorist in diesem Moment das Feuer auf die Kinder eröffnet – und damit über eine Stunde lang nicht mehr aufhört.» Die 30-jährige Lehrerin hat ein Lehrmittel zu den Anschlägen entwickelt, das seit dem letzten Jahr zum festen Lehrplan der norwegischen Oberstufe gehört.
Seit 2015 gibt es wieder Sommerlager
Als dann kurz nach 18 Uhr die richtige Polizei endlich auf der Insel eintraf, waren 69 junge Menschen tot und Hunderte verletzt. Sichtbare Spuren dieser Tragödie sind heute auf Utøya fast keine mehr zu sehen. Der Täter verbüsst eine lebenslange Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis.
Als ich hier vor einigen Jahren zum ersten Mal in ein Lager auf Utøya kam, wusste ich eigentlich nichts von all diesen schlimmen Sachen.
Und seit sechs Jahren werden auch wieder Sommerlager auf der Insel durchgeführt – daran nimmt eine neue Generation von engagierten Jugendlichen teil. Wie Varin Hiwa. «Als ich hier vor einigen Jahren zum ersten Mal in ein Lager auf Utøya kam, wusste ich eigentlich nichts von all diesen schlimmen Sachen», erzählt sie, die zum Zeitpunkt der Anschläge neun Jahre alt war.
Heute ist sie die Vorsitzende der Osloer Sektion des sozialdemokratischen Jugendverbandes AUF. «Erst später ist mir das Ausmass dieser Terroranschläge bewusst geworden und wem sie ganz gezielt galten, nämlich jungen Menschen wie mir, die sich für eine offene Gesellschaft und eine partizipative Demokratie in Norwegen stark machen», sagt Hiwa, die neben ihrem politischen Engagement auch in einem Osloer Supermarkt arbeitet.
In ihren Augen beginnt Norwegen erst jetzt – ein Jahrzehnt nach den Anschlägen – offen über die politischen Hintergründe der Anschläge vom 22. Juli 2011 zu sprechen: «Ich finde es sehr gut, dass wir heute so viel über diesen Einschnitt in unserer Geschichte sprechen und das Problem des Rechtsextremismus beim Namen nennen können», betont Hiwa.
Als Kind kurdischer Einwanderer in Norwegen und als politisch engagierte junge Frau schlägt ihr viel Hassrede in sozialen Medien entgegen – und immer wieder auch direkt Morddrohungen.
Die Rückeroberung Utøyas beginnt
Hiwa und ihre Generation möchte die Wunden der Anschläge vor zehn Jahren nicht einfach vernarben lassen, sondern Utøya als Ort des Dialoges für die Zukunft zurückgewinnen. Dazu gehört eine aktive Auseinandersetzung mit antidemokratischen Tendenzen – und der Bau einer Gedenkstätte am Festlandufer des Tyrifjordes.
Gegen den Willen der Anrainer und nach jahrelangen politischen Diskussionen ist diese Anlage nun im Bau. Die vom Menschenhand ausgeführte Tragödie soll in Erinnerung bleiben – das Motto der neuen Generation Utøya lautet: «Nie vergessen, nie schweigen».