In der Schweiz ist in den letzten 25 Jahren eine neue Form des Streitens entstanden – eine «Kultur» hat diese Art des Konflikts aber noch lange nicht. Dies zeigen die Wahl- und Abstimmungskämpfe der vergangenen Jahre.
Jüngster Höhepunkt: Der Schlagabtausch zwischen dem Pro- und Kontra-Lager vor der Abstimmung zur SVP-Durchsetzungsinitiative. Nach einem gemeinsamen Nenner, einem Konsens, kann lange gesucht werden – es hat ihn nicht gegeben.
Doch die Bereitschaft zum Konsens war einst ein Steckenpferd der Schweiz. «Seit 1848 konnte man sich hierzulande auch in schwierigen Phasen immer wieder zusammenraufen», sagt der Soziologe Linards Udris vom Forschungsinstitut für Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich (Fög).
Udris weiter: «Die sehr stabile Phase mit einer hohen Konsensorientierung jedenfalls – die wir exemplarisch in den Jahrzehnten der Zauberformel hatten – ist seit Anfang der 1990er-Jahre vorbei.» Doch diese Orientierung am Konsens sei immer ein gutes Mittel gewesen, um die Schweiz voranzubringen, so der Soziologe.
Was braucht das Land?
Trotzdem werden hierzulande die politischen Konflikte immer schärfer, die Positionen unverrückbarer. Das wirkt sich auch auf die Zivilbevölkerung aus. Was tun mit dieser pausenlosen Empörung und Erregung? Können wir in diesem Zustand weiterhin zivilisiert zusammen leben?
«Die Schweiz sollte wieder in eine Phase treten, in der die politischen Kräfte stärker aufeinander zugehen», sagt Udris. Er rät deshalb der Politik dialog- und kompromissorientiertes Arbeiten. Denn die aktuelle Konfliktsituation sei ein Problem für die Schweiz.
Konsens ist in jeder Demokratie wichtig.
Udris blickt in die Zukunft: «Entweder wir gewöhnen uns an das anhaltende, laute Geschrei – und stumpfen dabei ab. Oder: Wir besinnen uns darauf, was dieses Land einst stark gemacht hat.» Dies bedinge allerdings auch eine vorbildhafte politische Elite.
Doch dieses Vorbild fehlt heute weitgehend. Udris begründet: In der politischen Elite sei seit dem Aufstieg der SVP zu Beginn der 1990er-Jahre ein Wandel geschehen. Seither fehle es dem bürgerlichen Lager an Einheit. So habe sich die FDP und die CVP immer stärker am gesellschaftsliberalen Pol verortet. «Und die SVP hat sich immer stärker in Richtung einer rechtspopulistischen Partei entwickelt.»
Medien bieten Verschärfung eine Plattform
Warum die Volkspartei damit so erfolgreich sei, hänge von verschiedenen Faktoren ab. Udris: «Einerseits spielen Globalisierungsängste der Bevölkerung mit, andererseits hat dies aber auch mit der Finanzstärke der SVP zu tun: Denn sie führt die teuersten Wahl- und Abstimmungskämpfe des Landes – und trägt dazu bei, solche Ängste zu bewirtschaften.»
Ein weiterer Faktor seien auch die Medien, so der Mediensoziologe. Denn im Zeitalter der Mediengesellschaft bekämen politische Konflikte und Zuspitzungen viel mehr Raum als früher. Zudem würden die Parteien in den Medien zunehmend an ihren Maximalforderungen festhalten. Diese seien weniger bereit einen Konsens einzugehen. Udris bilanziert: «Alles zusammen führt zu einer Konfliktverschärfung, zu einer Polarisierung in der Schweiz.» Ganz nach dem Motto: Wer lauter schreit, gewinnt.