Den Vätern des Bundesstaats lag der Föderalismus sehr am Herzen. Deshalb sicherten sie ihn gleich doppelt ab – mit einem Zweikammer-Parlament aus Volks- und Kantonsvertretern sowie dem Ständemehr bei Abstimmungen zu Verfassungsfragen.
Der Hintergedanke war so simpel wie löblich: Das Ständemehr schützt die Minderheit vor der Mehrheit und schafft einen Ausgleich zwischen den Regionen. So weit, so gut. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail.
Denn das Ständemehr kann den Volkswillen auch aushebeln. Was mehr als 150 Jahre scheinbar problemlos funktionierte, hat sich in den letzten Jahrzehnten zum immer wiederkehrenden Ärgernis entwickelt.
Vorlagen, die einzig am Ständemehr scheiterten
1866 | Referendum zu Mass und Gewicht: 50,4 % ja, aber Ständemehr 9,5:12,5 |
1955 | Initiative «Mieter- und Konsumentenschutz»: 50,2 % ja, aber Ständemehr 7:15 |
1970 | Referendum zur Finanzordnung: 55,4 % ja, aber Ständemehr 9:13 |
1973 | Referendum zum Bildungswesen: 52,8 % ja, aber Ständemehr 10,5:11,5 |
1975 | Referendum zum Konjunkturartikel: 52,8 % ja, aber Ständemehr 11:11 |
1983 | Referendum zum Energieartikel: 50,9 % ja, aber Ständemehr 11:12 |
1994 | Referendum zum Kulturartikel: 51,0 % ja, aber Ständemehr 11:12 |
1994 | Referendum erleichterte Einbürgerung: 52,8 % ja, aber Ständemehr 10:13 |
2013 | Referendum zum Familienartikel: 54.3% ja, aber Ständemehr 10:13 |
Vor allem die urbanen Zentren und die französischsprachige Schweiz fühlen sich am Gängelband der kleinen, ländlichen und eher konservativen Kantone der deutschen Zentral- und Ostschweiz.
Der Waadtländer Roger Nordmann möchte deshalb am liebsten, dass «die sechs grössten Kantone drei Stimmen bekommen und die zwölf kleinsten eine Stimme». Dann würde man 46 Stimmen bleiben und das wäre immerhin ein bisschen gerechter, findet der SP-Nationalrat.
Das Ständemehr «ist nicht ungerecht, weil dadurch Minderheiten, kleine Kantone, sich gegen eine Mehrheit durchsetzen können», findet dagegen CVP-Nationalrat Gerhard Pfister. Ebenfalls kein Verständnis für Änderungswünsche hat Hans Fehr. Vielmehr befürchtet der SVP-Nationalrat, dass «die Linke eine Säule der Schweiz abschaffen will».
Gute Ideen mit schlechten Erfolgsaussichten
Vor diesem Hintergrund scheint ein Konsens über eine Reform des Ständemehrs in weiter Ferne zu liegen. Bedauerlich finden Experten, gibt es doch eine Reihe ernstzunehmender Vorschläge, die eine genauere Betrachtung verdient hätten.
So könnte bei einem Volksmehr die Zustimmung von acht Ständen ausreichen, um Verfassungsänderungen durchzuwinken. Ein anderer Gedanke wäre, dass nur ein qualifiziertes Ständemehr von zwei Dritteln das Volksmehr zu Fall bringen kann.
Radikalere Pläne möchten für die fünf grössten Städte eine eigene Standesstimme, zusätzlich zur Kantonsstimme oder aber ein vollständiges Negieren des Ständemehrs, wenn die Beteiligung an der Abstimmung ein gewisses Fixum übersteigt.
Auch eine Zusammenlegung der Zentralschweizer Kantone zum Kanton Innerschweiz wird zuweilen in die Runde geworfen. Die Chance darauf? Gleich Null. Denn Änderungen des Ständemehrs bedürfen der Zustimmung der Kantone. Und die werden der eigenen Entmachtung vermutlich nicht zustimmen.