In den letzten vier Jahren ist der Kanton um 20'000 Bewohner gewachsen. Dabei wurden gerade mal 5600 Wohnungen geschaffen. Das soll sich in den nächsten vier Jahren ändern, versprechen die Politiker mit Blick auf die Parlamentswahlen vom Sonntag. Die Wohnungskrise in Genf ist eines der grossen Wahlthemen.
Küche mit Fenster gilt als Zimmer
Im Zentrum von Genf, am Boulevard Carl-Vogt, vor einem Betonblock aus den 60ern, haben sich etwa 30 Menschen versammelt. Sie sind gekommen um eine Dreizimmerwohnung zu besichtigen. Die Wohnungsvermittlerin leitet die Interessenten in den zweiten Stock. Der Preis ist attraktiv: 1400 Franken.
Ein Schnäppchen, denn Dreizimmerwohnungen sind in Genf in der Regel nicht unter 2000 Franken zu haben. Drinnen steht man einander auf den Füssen herum. Klötzliparkett, die Decke in den zwei kleinen Zimmern nur wenig über den Köpfen der Besucher. Ein drittes Zimmer sucht man vergebens. Die Vermittlerin erklärt: «In Genf gelten Küchen auch als Zimmer, sofern sie ein Fenster haben.»
Niedriger Leerwohnungsbestand
Ein Interessent hat bereits nach einer Minute genug gesehen: «Das ist doch keine Dreizimmerwohnung. Das Wohnzimmer und die Küche sind in einem Zimmer. Es hat keinen Platz. Genf ist schlicht unglaublich!», sagt er verzweifelt. Diese Woche habe er schon 15 Wohnungen abgeklappert, jetzt sei er einfach nur müde. Wenn das so weitergehe mit Genf, sei das ein grosses Problem. Doch es ist bereits ein grosses Problem: In Genf stehen auf 1000 Wohnungen gerade mal drei leer.
Der Schweizer Durchschnitt liegt bei zehn. Kein Wunder suchen sich viele eine Wohnung im benachbarten Frankreich, wie etwa Antoni Mayer, der in der Nähe von Annemasse wohnt: «Ich wohne jetzt in Frankreich, weil ich ein sogenannter 'Expulsé immobilier' bin, also ein Immobilien-Ausgewiesener.» Der Exilschweizer kandidiert für die CVP, will am Sonntag in den Genfer Grossrat gewählt werden. Dass man in Genf fast keine bezahlbare Wohnung mehr findet, ist sein Wahlprogramm.
Immer mehr Exilgenfer in Frankreich
Auch der Grüne Kandidat Peter Loosli wohnt auf der anderen Seite der Grenze und schreibt sich die Wohnungskrise auf die Fahne. Zu seiner Wählerschaft gehören viele Exilgenfer. Es seien «ein bisschen mehr als 14’000, also die Stimmbürger, die entschieden haben, zu wählen, sich einzutragen ins Genfer Stimmregister».
Doch die Dunkelziffer liegt viel höher. Man geht von 30’000 bis 40’000 Genfern aus, die in Frankreich leben. Bis zu 80 Prozent der Neubauten im benachbarten Frankreich werden an Genfer verkauft oder vermietet. Und das hat ein weiteres Problem zur Folge, erklärt Antoni Mayer: «Das sind die Franzosen, die in Frankreich wohnen und die in Euro bezahlt werden. Die können bald nicht mehr an der Genfer Stadtgrenze wohnen und müssen ins Hinterland Frankreichs ziehen.»
Grenzüberschreitender Domino-Effekt
Genf exportiert seine Wohnungsnot ins Ausland. Das Problem ist dermassen gravierend, dass sich der bürgerliche Mayer und der linke Loosli weitgehend einig sind: Genf muss in Frankreich investieren, sagt Peter Loosli stellvertretend für beide: «Auf der französischen Seite der Grenze könnte der Kanton Genf beispielsweise in Gesellschaften einsteigen, um auch dort Wohnungen zu bauen.»
Doch solche Vorhaben dürften auf grossen Widerstand stossen. Diverse Projekte auf französischem Boden wurden von den rechten Parteien bisher immer abgeblockt. Der Kern des Problems liege bei den unzähligen Rekursmöglichkeiten im Genfer Baugesetz, erklärt Antoni Mayer: «In Genf braucht man mehr Zeit um eine Baubewilligung zu erhalten, als um zu bauen. Also die ganze Prozedur ist einfach unmöglich. Genf leidet an einer akuten Rekursitis.»
Schon wenn ein geplantes Haus die Sicht auf den Mont Blanc zu versperren droht, können die Nachbarn einen Rekurs einlegen, was den Bau auf viele Jahre hinauszögert. Das Genfer Baugesetz muss geändert werden, sind sich die beiden Politiker einig. Sie sind Pragmatiker: «Die Probleme sind konkret und wir müssen mit konkreten Massnahmen handeln. Wir sind dazu verurteilt, pragmatisch zu sein.»
Wohnungsnot macht erfinderisch
Pragmatisch sind auch die Genfer. Wie zum Beispiel diese ältere Dame, die nach der Wohnungsbesichtigung am Boulevard Carl-Vogt gesteht, nicht für sich selbst zu suchen, sondern für einen Studenten, der nach einem Jahr immer noch keine Wohnung gefunden hat. Sie glaubt, als ältere Person mehr Chancen zu haben eine Wohnung zu finden, da sie den Anschein macht, solventer zu sein als der Student.