Elisabeth Ravasio wurde am 13. Dezember 1959 in die Psychiatrie eingeliefert – vom Ehepaar, bei dem sie ein Haushaltlehrjahr absolvierte. Dahinter steckte eine unglückliche Geschichte, sagt die heute 75-Jährige: Ihre Lehrmeisterin habe sie geplagt und loswerden wollen. Ihre Diagnose: «Hochgradige Verstimmbarkeit», «Neigung zu hysterischen Mechanismen», «intellektuelle Beschränktheit», «Epilepsie».
Nie in ihrem Leben litt Elisabeth Ravasio an Epilepsie – weder damals noch heute. Ihr Bruder Walter Ravasio ist heute fassungslos, wenn er in der Akte seiner Schwester blättert: «Was da berichtet wird, ist für mich zum Teil Horror, zum Teil falsch, zum Teil suspekt. Ich sehe meine Schwester in den Berichten gar nicht.»
Viele Gerüchte
Elisabeth Ravasio war zu einer Zeit in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen interniert, als es üblich war, Substanzen für neue Medikamente an Patienten zu prüfen. Dafür zuständig war der Psychiater Roland Kuhn, der 1939 an die Thurgauer Klinik kam. Jahrzehntelang war er Oberarzt und stellvertretender Direktor. Von 1970 bis 1980 leitete er die Klinik. Aus Elisabeth Ravasios Akte geht nicht hervor, dass sie Teil von Versuchen war. Doch die Patienten sprachen untereinander darüber: «Schon von Anfang an, als ich kam, hiess es ‹Ha, nochmal ein Versuchskaninchen›!»
Viele Gerüchte über Roland Kuhn und das, was er mit den Patienten machte, kursierten unter den Patienten, erinnert sich Elisabeth Ravasio. «Man hat immer das Wort gehört: Versuchskaninchen.»
Gefährliche Schlafkuren
Eine Frau, die sie kennenlernte, als sie in eine andere Abteilung versetzt wurde, sei nur da gesessen und habe vor sich hin gestarrt. Als sie andere Patienten fragte, was mit ihr sei, hätten sie ihr geantwortet, dass die Frau viel habe leiden müssen, weil sie ein Versuchskaninchen gewesen sei: «Die kommt nicht mehr raus», sagten sie mir, «da musst du jetzt nicht trauern darüber.»
Elisabeth Ravasio erlebte die damalige Psychiatrie in ihrer ganzen Brutalität: «Wenn man sich gegen eine Spritze wehrte, waren sie stärker: Die Schwestern hielten einen fest und dann wurde gespritzt. Meistens wurde man in einen Rollstuhl geworfen und in eine andere Abteilung gebracht.»
Elisabeth Ravasio wurde einer mehr als zehntägigen Schlafkur unterzogen: «Ich war immer im Bett angebunden – das war fürchterlich. Was man körperlich durchmachte, war grausam.» Wenn sie daran zurückdenkt, muss sie weinen. Heute weiss man, dass Schlafkuren gefährlich sind, weil sie zu schweren Entzündungen führen können.
Ich dachte, sie kratzen mir mit der Fegebürste die Haut weg.
Als sie in ihrer Verzweiflung aus der Klinik floh, wurde sie von der Polizei zurückgebracht. Sie wurde in eine Badewanne gesteckt und mit einer Fegebürste abgeschrubbt: «Das hat so weh getan, ich habe gemeint, sie kratzen mir die Haut weg.»
Eine der Schwestern sagte zu Elisabeth Ravasio: «Wir werden es Dir schon zeigen, damit du so etwas nie mehr machst. Was glaubst Du eigentlich, was mit unserem Ruf geschieht, wenn das in der Zeitung steht?
Psychiatrie statt schulpsychologischer Dienst
1961 wurde Elisabeth Ravasio aus der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen entlassen. Im gleichen Jahr wurde Alexander Dreher dort zum ersten Mal ambulant abgeklärt, weil er ein verträumtes Kind und langsamer als andere war. Weil es damals keinen schulpsychologischen Dienst gab, wurde er in Münsterlingen untersucht.
Der heute 64-jährige erzählt, wie ihn seine Geschwister deswegen hänselten: «Es gibt ja in Münsterlingen das Kantonsspital und es gibt die Seeseite, wo die Psychiatrie ist. Wenn jemand auf die Seeseite geht – Münsterlingen Seeseite – ja, damit konnten sie mich schon ärgern.»
«Es war ein Tabu»
Als Alexander Dreher 15 Jahre alt war, brachte ihn seine Mutter erneut nach Münsterlingen. Behandelnde Ärztin war Verena Kuhn, die Ehefrau von Roland Kuhn.
Aus Alexander Drehers Akte geht hervor, dass ihm Verena Kuhn haufenweise Pillen verschrieb: «Ich weiss, dass ich niemandem erzählt habe, dass ich Medikamente aufgrund von psychischen Defekten oder was auch immer nehme», sagt Alexander Dreher. «Es war ein Tabu, darüber habe ich nie geredet.»
Die meisten Pillen, die Alexander Dreher schlucken musste, waren nicht zugelassene Substanzen. Unter anderem Maprotilin, das 1972 unter dem Namen Ludiomil auf den Markt kam. Alexander Dreher erhielt es vorher – ohne dass seine Eltern darüber informiert wurden und ohne dass er Teil eines gleichzeitig verlaufenden Versuchs war – er war also kaum überwacht.
Meine Eltern hätten Auskunft erhalten sollen.
Verena Kuhn beschrieb 1972 in der Publikation «Depressive Zustände» ihre Tests mit Kindern: «Zur exakteren Beurteilung der Wirkung verfügen wir über eine Aufstellung von 100 Fällen (75 Knaben und 25 Mädchen) im Durchschnittsalter von 12 Jahren, von denen 95 nur ambulant, 5 auch klinisch behandelt wurden.»
Alexander Dreher denkt ohne Bitterkeit zurück: «Jetzt, nachträglich, habe ich keine negativen Gefühle. Natürlich finde ich es nicht korrekt gegenüber meinen Eltern, was gemacht worden ist. Sie hätten Auskunft erhalten sollen.»
Das Schweigen brechen
Elisabeth Ravasio hatte grosse Schwierigkeiten, einen Weg zurück ins normale Leben zu finden. Sie zitterte ständig, litt unter Schweissausbrüchen, nachts plagten sie jahrelang Albträume.
Die Zeit in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen warf einen Schatten über ihr ganzes Leben. Jahrzehntelang schwieg sie über das, was sie in Münsterlingen erlebt hatte. Heute bricht sie ihr Schweigen. Fast 60 Jahre später.