Den 20. September 2021 hat Marlen Reusser in ihrer Agenda dick angestrichen. Es ist jener Tag, an dem sie vor 30 Jahren in Jegenstorf das Licht der Welt erblickt hat. Doch eine grosse Sause wird es im Bernbiet zum runden Geburtstag deswegen nicht geben – womöglich aber in Brügge. Im Nordwesten Belgiens findet am Montag das WM-Zeitfahren der Frauen statt; und die Jubilarin hat dabei beste Aussichten auf den Sieg.
Ein anderes Ziel formuliert die Frohnatur denn auch gar nicht: «Vielleicht ist es dumm, das so deutlich zu sagen. Aber in mir drin habe ich diese Überzeugung, dass ich hierhergekommen bin, um zu gewinnen. Da wäre es gelogen, wenn ich etwas anderes sagen würde.»
In 5 Jahren an die Weltspitze
Dabei hätte vor 5 Jahren kaum jemand geglaubt, die Schweizerin auf diesem Niveau zu sehen. Doch Reusser, die als studierte Ärztin und Quereinsteigerin den Radsport anfänglich noch berufsbegleitend betrieb, hat innert kürzester Zeit den Aufstieg an die absolute Weltspitze geschafft.
Ich habe wieder ein neues Form-Level erreicht.
Heute zählt sie im Zeitfahren zu den Allerbesten und kann auch bei schwierigen Strassenrennen wie der Flandern-Rundfahrt oder zuletzt bei der Challenge by la Vuelta um den Sieg mitfahren.
Prominente Abwesende
Bereits vor einem Jahr sprach Reusser davon, in der «Form ihres Lebens» zu sein. Damals gewann sie als 3. des EM-Zeitfahrens ihre erste Medaille an internationalen Titelkämpfen. Einen Monat später liess sie in ihrer Paradedisziplin WM-Silber folgen, geschlagen nur von der Niederländerin Anna van der Breggen. Die Strassen-Olympiasiegerin von 2016, die Ende Jahr zurücktritt, wird ihren WM-Titel jedoch nicht verteidigen. Sie präsentierte sich zuletzt ausser Form.
Ganz anders Reusser, die 2021 noch einmal einen Schritt nach vorne gemacht hat: «Ich habe wieder ein neues Form-Level erreicht. So fit war ich wirklich noch nie, solch gutes Material hatte ich noch nie. Meine Beine überraschen mich selber.»
Reissnägel nicht nötig
Trotz Van der Breggens Absage gehen Reusser die Konkurrentinnen nicht aus. Aus dem niederländischen Lager stehen mit Annemiek van Vleuten und Ellen van Dijk zwei andere Topfahrerinnen bereit, die der Schweizerin das Leben schwer machen wollen. Gerade Van Vleuten hat seit ihrem Olympiasieg in Tokio zuletzt mehrfach bewiesen, dass sie in Topform ist. Bei Reussers EM-Sieg vor eineinhalb Wochen hatte sich die Zeitfahr-Weltmeisterin von 2017 und 2018 eine Auszeit gegönnt.
Pacing ist mega einfach. Einfach von A bis Z Vollgas. Ich glaube, das wird ein mentales Ding.
Auf die Konkurrenz will Reusser allerdings gar nicht zu sehr blicken, denn «die kann man nie kontrollieren, ausser man streut hinter sich Reissnägel auf die Strasse», meint sie scherzhaft, bevor sie selbstbewusst erklärt: «Ich gehe einfach All-In.»
Strecke wie für Rollerin Reusser gemacht
In Flandern werden die Uhren wieder auf null gestellt. Auf dem 30 km langen und flachen Parcours zwischen Knokke-Heist und Brügge kann Reusser ihre Qualitäten als starke Rollerin voll ausspielen. «Pacing ist mega einfach. Einfach von A bis Z Vollgas. Ich glaube, das wird ein mentales Ding.»
Und im Kopf – das hat die Jubilarin zuletzt immer wieder gezeigt – macht ihr so leicht keine Gegnerin etwas vor. Wenn sie am Montag die Beine auch mit 30 Jahren noch so überraschen wie zuletzt, dann stehen die Chancen tatsächlich gut, dass das grösste Geschenk zum runden Geburtstag gar nicht mehr anderweitig organisiert werden muss.