Das Wichtigste in Kürze
- Im Stück «Alles muss glänzen» kämpft eine Mutter tagtäglich gegen das Aufgeben – und gegen fast biblisches Unheil.
- «Alles muss glänzen» ist das erste Stück des jungen amerikanischen Dramatikers Noah Haidle, das in der Schweiz zu sehen ist. Es wurde bereits presigekrönt.
- Die Premiere am Theater Winkelwiese überzeugte mit entwaffnendem Optimismus und glaubwürdigen Darstellern.
Nur nicht die Nerven verlieren
Die Frau mit der Kochschürze über dem Blümchenkleid (Chantal Le Moign) wird mit allem fertig. Ob ihre Nachbarin Glady (Doris Strütt) sich nach einer Runde Skat den Kopf wegballert, ob ein Serienvergewaltiger sich gewaltsam Zugang zu ihrer Wohnung verschafft oder eine religiöse Fanatikerin den Weltuntergang herbeipredigt. All das ist für die robuste Rebecca kein Anlass, die Nerven zu verlieren.
Müde, hundemüde, todmüde
Die Nerven hat sie nämlich schon längst verloren. In 22 ermüdenden Ehejahren, in denen sie Tag für Tag am Herd stand und all ihre Bedürfnisse zugunsten der Familie hintenan gestellt hat. «Müde, hundemüde, todmüde bin ich», sagt Rebecca in einem vertrauensvollen Moment.
Doch denkt sie nicht ans Aufgeben, schrubbt weiter und übt neue Kochrezepte, für den Fall, dass doch noch eines der in alle Winde verstreuten Familienmitglieder den Weg nach Hause finden sollte.
Soviel Glauben in die eigene Kraft muss man erst einmal aufbringen, und vor Rebecca beugt sich denn noch die grösste Katastrophe zu einem Übel, das sich beseitigen lässt.
Biblisches Unheil und trockene Martinis
Sohn Michael (Alexander Maria Schmidt) ist schizophren und auf der Suche nach seinem Vater rätselhafterweise im Bauch eines Wals gelandet. Der Freund von Tochter Rachel (Anna-Katharina Müller) wird von einem Hai zerfetzt, während in Rebeccas Backröhre eine Flunder schmort. Autor Noah Haidle stellt dem langweiligen Dasein einer ausrangierten Hausfrau in den 1950er-Jahren biblisch anmutende Unbill entgegen.
Damit wirkt die Einsamkeit, Rebeccas grösste Feindin, umso bizarrer. Rebecca mischt sich zur Aufheiterung trockene Martinis («mein Persönlichkeitsdrink») und ruft stündlich den lokalen Radiosender an, um sich jene Songs zu wünschen, die sie an eine heilere Vergangenheit erinnern.
Kitsch ist keine Lösung
Das mag nostalgisch oder gar kitschig klingen, ist es aber mitnichten. Der 29-jährige Autor Noah Haidle treibt in knappen Dialogen und abstrus komischen Situationen das Motiv einer an wachsender Einsamkeit leidenden Alltagskämpferin auf die Spitze. Indem er Rebecca kein einziges Mal verzweifeln lässt, gewinnt die Figur an Charakterstärke und Glaubwürdigkeit.
Die Rolle scheint wie gemacht für Schauspielerin Chantal Le Moign, die sie mit entwaffnendem Optimismus ausstattet und dabei die latente Zerbrechlichkeit durchscheinen lässt. All das Unglück, das sich in ihre Küche schleicht, wischt Rebecca mit erstaunlicher Würde und einer zunehmend fleckigen Schürze beiseite.
Ein berührender Theaterabend
Beitrag zum Thema
Regisseur Manuel Bürgin, Intendant der Zürcher Winkelwiese, arbeitet die Ambivalenz der Figuren sorgfältig heraus und präsentiert zusammen mit einem grossartigen Ensemble einen überzeugenden, berührenden Theaterabend. So schnell wird einen diese Rebecca nicht loslassen, und vorschnell sollte man über sie kein Urteil fällen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 5.12.2016, 16:50 Uhr.