Nach einer turbulenten Kindheit und Jugend besuchten Sie das Gymnasium im Kloster Einsiedeln – wie kamen Sie in Berührung mit Film und Theater?
Anatole Taubman: Film war für mich eine Flucht vor der Realität. Mein Vater starb, als ich zehn war. Als Jugendlicher ging ich mehrmals pro Woche alleine ins Kino. Dort vergass ich für zwei Stunden meine Realität und tauchte in eine imaginäre Welt ein.
Fühlt man sich als Kind einsam, wird man entweder zum ruhigen Outsider oder – wie ich – zum Klassenclown, der im Mittelpunkt steht. Natürlich ist das ein unbewusster Prozess, aber es wirkte: Wer andere zum Lachen bringt, erhält Bestätigung, Liebe. Und damit schützt man sich auch – Darwinismus.
Was änderte sich mit dem Eintritt ins Internat des Klosters Einsiedeln?
Ein neues Leben begann. Ich kam mit 16 direkt aus der Jugendstrafanstalt. Das Kloster war meine Rettung. Im Schultheater führten wir unter Pater Kassian – er war der Rektor und eine Vaterfigur für mich – den «Kaufmann von Venedig» auf. Ich spielte die Hauptrolle des Shylock, eines 80-jährigen, zornigen Juden.
Nach der Aufführung fragte man mich ungläubig: Du, so böse und verbittert? Ich hätte das toll gemacht, man habe mitgefühlt. Da wurde mir bewusst: Als Clown werde ich nicht ernst genommen, doch glaubt man mir den Shylock. Also muss man auch mich ernst nehmen, da ich ja Shylock spiele. Ich werde Schauspieler!
Vom Innerschweizer Benediktinerkloster ging es in die USA an die Schauspielakademie: Weshalb keine Schule in der Schweiz oder in Deutschland?
Mir fehlte der Mut, mit meinem Schweizer Akzent in Deutschland vorzusprechen. Meine Mutter kannte noch einige Künstler aus der Zeit, als mein Vater im Bereich der klassischen Musik Starmusiker aus aller Welt managte.
Sie arrangierte ein Treffen mit Marc Belfort, damals Leiter des Zürcher Opernhausstudios, der mich wiederum mit Tom Barthel bekannt machte. Tom Barthel war nicht nur Dirigent des Zürcher Opernhausstudios, sondern auch musikalischer Leiter des Weathervane Theater in New Hampshire, USA, einem populären amerikanischen Sommertheater.
Vier Tage nach der Matura stand ich neben Tom Barthel am Flughafen Zürich und verabschiedete mich von meiner weinenden Mutter.
Fiel der Abschied schwer?
Nein. Ich war froh, aus der kleinen Schweiz herauszukommen. Ich reiste mit offenem Herzen nach Amerika und wurde dort mit offenen Armen empfangen. Ich half bei Regie, Requisite, Licht und Kostüm mit. Vor allem stand ich aber in kleinen Rollen oder im Ensemble auf der Bühne.
Meine allererste Rolle, für die ich bezahlt wurde, war eine Palme mit ausgeschnittenem Gesicht im Musical «Annie Get Your Gun». In der hintersten Reihe sang ich leidenschaftlich alle Lieder mit – ich war wohl die stolzeste Palme aller Zeiten. Es gab pro Vorstellung 37 Dollar. Den ersten Scheck besitze ich noch heute.
Und da gefiel es Ihnen derart gut, dass Sie gleich blieben?
Während dieser 13 Wochen holte ich von den Kollegen und Kolleginnen im Ensemble Empfehlungen über die besten Schauspielschulen in den USA ein. Mit einer Liste reiste ich im September 1992 nach Zürich zurück und bewarb mich an diesen Schulen.
Erneut half mir Tom Barthel: Er studierte mit mir die drei geforderten Monologe und ein Lied ein. Dann reiste ich im Januar 1993 wieder in die USA, diesmal nach New York und sprach während drei Monaten vor.
Ich wurde an fünf Schulen angenommen. Als angehender Schauspielschüler muss man an der Prüfung keine perfekte Performance ablegen, sondern Haltung, Begeisterung, Neugierde, Energie und Persönlichkeit zeigen.
Talent haben Millionen. Auf den Durchhaltewillen kommt es an! Ich entschied mich für die renommierte Circle In The Square School of Drama and Theatre in New York City.
Wie erging es Ihnen während der Ausbildung?
Mit dem Schauspielstudium in NYC begann eine wundervoll fantastische Zeit: Ich war frei, für mich allein und konnte machen, was ich am liebsten wollte. Ich entschied mich für die Theaterschule. Das Programm war intensiv. Einmal pro Monat kam ein Star und erzählte aus dem Beruf.
In den drei Jahren habe ich meinen Werkzeugkasten kennengelernt, lernte mit Gedanken und Emotionen mein Spiel zu lenken. Natürlich braucht man fürs Schauspielstudium ein gewisses Talent oder eine gewisse Veranlagung, aber es ist sicherlich auch ein Handwerk, das man erlernen kann. Hingabe und Disziplin sind auch enorm wichtig.
Gab es da Unterschiede zu den deutschsprachigen Schulen?
Ja. Der Ansatz der Schauspielschulen in den USA unterschied sich damals meines Erachtens stark von denjenigen in Deutschland und Österreich. Während diese den Fokus auf das Theater legten, hiess es in den USA: Es geht nicht darum, ob Theater oder Film. Wichtig ist die Rolle, der Charakter. Was ist das für eine Figur? Wie riecht sie, wie trinkt sie ihr Glas Wasser?
Schauspielschüler sind notorisch knapp bei Kasse. Wie haben Sie Ihr Auskommen gefunden?
Gott sei Dank musste ich meine Mutter nicht vom Schauspielstudium überzeugen, damit sie das kleine Erbe meines Vaters für mich freigab. Davon wurde bereits die letzten zwei Jahre des Internats finanziert.
Während meiner turbulenten Jugendjahre wurde ein Passus eingefügt, dass ich erst ab 25 an das Geld komme. Ein goldenes Ticket, das mir das Studium in Amerika ermöglichte. Dafür bin ich bis heute dankbar.
New York ist ein teures Pflaster. Gab es auch bei Ihnen Nebenjobs?
Miete und Studiengebühren waren gedeckt. Doch natürlich reichte das Geld nicht, deshalb kamen Nebenjobs hinzu. Unter anderem war ich «Concierge» in einem Club, von dem Prince auch Miteigentümer war – dem «Nell's» in der 14. Strasse. Da betreute ich die Gästeliste und wurde vor der Tür von zwei dunkelhäutigen Riesen beschützt.
Von da landete ich bei einer Agentur, für die ich gegen Geld wohlhabende Damen ausführte. Das war ein Begleitservice, Anfang der 1990er war das in New York nichts Besonderes. Ich war ein sogenannter «Walker».
Wie profitierten Sie davon – abgesehen vom Geld? Ein Rollenstudium der anderen Art?
Genau. Während eineinhalb Jahren war ich tagsüber Schauspielstudent Anatole Taubman und Abends hin und wieder Jean-Pierre oder François. Ich begleitete verwitwete oder geschiedene Damen, die nicht alleine ausgehen wollten – tolle, unabhängige Frauen. Das war meine beste Schule fürs Schauspielstudium und vor allem fürs Leben, ein farbenfroher Spielplatz.
Und wann stiegen Sie ernsthaft in den Beruf ein?
Noch während der Ausbildung wurde ich auf der Strasse als Model entdeckt. Ich modelte und drehte parallel dazu viel Werbung. So rutschte ich rein, kam von Amerika nach London und dann dank MTV nach Deutschland. Step by Step. Meine Karriere war nie ein Fahrstuhl, sondern immer ein Treppengang. Frei nach einem meiner Lebensmottos aus Shakespeares Hamlet: «Über allem sei dir selber treu.»