Es klingt völlig verrückt: Ein Schweizer Theatermacher reist mit seinem Team in den Kongo und veranstaltet dort vor Ort einen Gerichtsprozess, um die Ursachen der Misere zu klären, die das Land im Würgegriff hält. Verrückt ist das nicht zuletzt deshalb, weil im Kongo seit Jahrzehnten «der tödlichste Krieg der Welt» wütet, wie das «Time»-Magazin vor einigen Jahren titelte. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass die anhaltenden Konflikte sechs Millionen Tote gefordert haben – seit dem Sturz des Diktators Mobutu im Jahr 1997 bis heute.
Fiktion vs. sechs Millionen Tote
Der Schweizer Regisseur Milo Rau hat genau das gemacht: Er ist mit seinem Team im Kongo aufgeschlagen, um dort vor Ort mit realen Akteuren während drei Tagen in einem Theatertribunal mit offenem Ausgang die Ursachen der kongolesischen Misere zu untersuchen. Mit realen Akteuren, darunter ranghohe Regierungsvertreter, kongolesische Oppositionspolitiker, UNO-Kritiker, NGOs sowie Rebellen, die offen einstanden, dass sie vergewaltigt haben. Das war im Mai diesen Jahres.
Doch was bleibt von diesem Theatergericht? Handelte es sich um das «ambitionierteste politische Theaterprojekt», das jemals auf eine Bühne kam, wie der englische «Guardian» vermutete? Was kann Theater angesichts von sechs Millionen Toten leisten? Das sind Fragen, die sich mir stellen, als ich das «Tribunal sur le Congo» in Bukavu an der Grenze zu Ruanda und Burundi besuche.
Die Verantwortung der multinationalen Unternehmen
Diese Fragen stellen sich aber auch in Berlin, wo am vergangenen Wochenende in einem zweiten Teil des «Kongo Tribunal» eine internationale Expertenjury die Resultate von Bukavu in einen grösseren Kontext einzuordnen versuchte: die Verantwortung der multinationalen Unternehmen, der Weltbank, der EU und ihrer Mitgliedstaaten, der UN und der NGOs.
Die in Berlin erörterten Leitfragen lauteten beispielsweise: «Ist die Peace-Keeping-Politik der internationalen Gemeinschaft vor Ort mitverantwortlich für den anhaltenden Konflikt?» Oder: «Werden die multinationalen Unternehmen für ihre Menschenrechtsverletzungen nicht belangt, weil ihr Engagement in Afrika notwendig ist für die aktuelle Rohstoff- und Energiepolitik Europas?»
Mehr als nur Theater im Kongo
Für Simone Schlindwein, die seit sieben Jahren aus Ostafrika berichtet, war das «Kongo Tribunal» in Bukavu mehr als nur Theater: «In Ermangelung eines funktionierenden Justizsystems im Kongo» habe Raus Projekt «zum ersten Mal in der Geschichte die Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen gestellt», schrieb sie in der deutschen «Tageszeitung».
Das genügt selbstverständlich nicht: Am letzten Prozesstag versammelte sich vor Raus Theatertribunal in Bukavu eine Gruppe Protestierender, die ein richtiges Tribunal forderten, mit Bestrafung der Täter und Entschädigungen für die Opfer.
Menschenrechtsverletzungen sind schwerer zu ahnden
Beides kann die Kunst nicht leisten. Die Stärken der Konfrontationsanstalt Theater liegen in ihrer bewusstseinsbildenden Kraft, die sich bei Milo Rau wesentlich aus der Unmittelbarkeit der Begegnungen mit realen Personen speist. Das zeigte sich auch beim «Kongo Tribunal» in Berlin.
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Die als Jurymitglied geladene amerikanische Soziologin Saskia Sassen machte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass wir ein starkes internationales Wirtschaftsrecht haben – aber weit weniger Möglichkeiten, Menschenrechtsverletzungen zu ahnden, weshalb die Richter quasi gezwungenermassen zu Anwälten von Unternehmen wie den grossen Minenfirmen werden.
Verantwortung lässt sich nicht delegieren
Das muss sich ändern – und kann auch geändert werden. Das war das Anliegen von Jurymitglied Wolfgang Kaleck, einem der Anwälte des Whistleblowers Edward Snowden: Er stand auf Raus Meinungstribunal dafür ein, das Recht als etwas zu verstehen, das auch von der Zivilgesellschaft eingefordert werden muss, wenn Wahrheit und Gerechtigkeit in die Welt kommen sollen.
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Die Verantwortung dafür lasse sich nicht delegieren. Das war auch das Plädoyer des Soziologen Harald Welzer: Die kongolesische Tragödie mache deutlich, dass es eine Staffelung der Verantwortung gebe, die all jene zu übernehmen hätten, die nicht zu den Opfern gehörten. Also auch wir.
Wir sind Teil des Problems
Man muss sich also als Teil des Problems verstehen, das auf Milo Raus Tribunal skandalisiert wurde – und das nicht zuletzt in Gestalt der Bootsflüchtlinge zu uns dringt. Man kann das nun alles unglaublich pathetisch finden, als linkes Gutmenschentum oder gar als falsche Aktivität abtun, weil damit keine unmittelbare Änderung in die Welt kommt.
Aber angesichts von Millionen Toten ändern all diese Einwände nichts daran, dass Milo Rau mit seinem «Kongo Tribunal» in Bukavu und Berlin bewiesen hat, was engagierte Kunst im besten Fall kann: Bewusstsein bilden und politische Aktivität auslösen – in der Unmittelbarkeit der Konfrontationsanstalt Theater.