- Choreograf Ohad Naharin erfand Gaga, als er in den frühen Nullerjahren durch eine Rückenverletzung nach einer neuen, schonenden Tanzform suchte.
- Ohad Naharin – «Mr. Gaga» – ist durch Gaga zu einem der bedeutendsten zeitgenössichen Choreografen geworden.
- Alle gaga: In israelischen Fitnesszentren ist Gaga unterdessen zu einem Massenphänomen geworden.
Rumms. «Du schützt Deinen Kopf zu sehr», sagt Ohad Naharin zu einer Tänzerin, die sich zu Boden fallen lässt. Romms, sie stürzt sich wieder hin. «Du musst den Kopf schützen, aber das darf man nicht sehen.» Die Tänzerin donnert auf den Boden. Schnitt.
Ohad Naharin ist «Mr. Gaga», weil er die Bewegungsform «Gaga» geschaffen hat. Er führt als künstlerischer Leiter die Batsheva Dance Company. An einer festen, nicht aber kurzen Leine. Die Tänzer dürfen und sollen sich bei Gaga losreissen, sich austoben wie Tiere: kriechen, sich schütteln, auf dem Rücken rollen. In sich hineinhören, statt in einen Spiegel zu schauen. Darum ist dieser während der Proben im Studio zugehängt.
Ein mitreissender Tanzfilm
Filmemacher Tomer Heymann zeigt in seinem Dokfilm «Mr. Gaga», wie eng die Bewegungsform Gaga mit der Biografie des Choreografen zusammenhängt. Der Film verbindet Szenen aus Naharins Stücken mit Aufnahmen von Proben, besonders aufschlussreich und charmant: mit Archiv-Videos aus der Kindheit und Jugend von Ohad Naharin.
Naharin tollt als Kind in den 1960er-Jahren im Kibbuz mit Tieren herum. Aufnahmen aus den 1970er-Jahren zeigen ihn während des Jom-Kippur-Krieges in einer Unterhaltungstruppe, wo er «mit schlechter Musik traumatisierte Soldaten bespassen soll», wie er selbst im Film erzählt. Kriegserfahrungen, die in allen seinen Stücken spürbar sind – besonders, wenn man vorher den Film «Mr. Gaga» gesehen hat und etwas über die Geschichte des Choreografen weiss.
In dem Wort «Gaga» steckt bereits ein Teil des wirkungsvollen Wahnsinns, den Ohad Naharin auf die Bühne bringt. Durch eine Rückenverletzung in den frühen Nullerjahren konnte der Tänzer seinem Körper nicht mehr so viel abverlangen, musste sich von ihm führen lassen. Das durfte und soll auch heute noch verrückt, witzig oder erschreckend aussehen: irgendwie gaga eben.
Knappe Höschen provozieren
Mit seiner schonungslosen Ausdruckswucht bringt der israelische Choreograf regelmässig die Konservativen im Land gegen sich auf – auch das lässt der Film «Mr. Gaga» nicht aus: Die Tänzer tragen zu knappe Höschen, Frauen küssen sich und man sieht Männer von hinten, die im Schoss herumschrubben. Als diese sich umdrehen, erblickt der Zuschauer Gewehre, die offenbar soeben abgebürstet wurden.
Das alles ist schon der Rede – eines Artikel – wert. Hinzu kommt, dass Gaga ein Fitness-Studio Hinrenner geworden ist. Auf Youtube-Videos sieht das etwas staksig aus, aber ausdrucksstark. Ganz im Sinne von Ohad Naharin – oder zumindest annähernd.
«Auf den ersten Blick hat das einen negativen esoterischen Touch», sagt Catja Loepfe, Leiterin des Tanzhauses Zürich. «Ich sehe das anders: Beim Gaga ist man mit allen Fasern präsent. Innerhalb sehr klarer Regeln fordert Gaga dazu auf, sich vom eigenen Geisteszustand leiten zu lassen, unaufhaltsam und präsent zu sein.»
Bedingungsloser Einsatz – ohne Kopfschutz
Aus diesem Grund hat Catja Loepfe bereits zweimal den Choreografen und ehemaligen Tänzer der Bathseva Dance Company Andrea Costanzo Martini für Workshops ins Haus geholt. «Noch nie haben wir im Nachhinein so viele Anfragen bekommen, ob ein nächster Workshop geplant ist», erzählt Catja Loepfe. «Gaga fokussiert auf besondere Weise. Und wenn man die Batsheva Dance Company anschaut, sieht man das.»
Am Ende des Filmes läuft der Choreograf eine Treppe hoch. Stolpert und fällt. Rumms. Nochmal. Romms. Es sieht nicht so aus, als würde Ohad Naharin seinen Kopf schützen.
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Bild 1 von 9. Gaga kann alles sein, aber nicht irgendwie: Ohad Haharin versammelt in seiner Batsheva Dance Company Tanzgrössen aus aller Welt. Bei ihm gehen sie trotz aller Freiheiten durch eine harte Schule. (Szenenbild aus «Minus 16»). Bildquelle: Getty Images.
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Bild 2 von 9. «Minus 16» (1999): Wildes Wiegen zu einem Musikmix aus Dean Martin, Cha-Cha-Cha, Mambo und traditioneller israelischer Musik. Geprobt wurde das Stück allerdings – wie alle anderen auch – erst einmal ohne Musik, um in sich hinein hören zu können. Bildquelle: Getty Images.
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Bild 3 von 9. Bewegungslose, dahingeraffte Körper finden sich in vielen Stücken von Ohad Naharin. Sie sind Ausdruck seiner Erfahrungen während des Jom-Kippur-Krieges, in dem er als Unterhaltungsmusiker an der Front diente. Bildquelle: Gadi Dagon.
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Bild 4 von 9. In «Last Work» kommen die Tänzer in einer berauschenden Schlussszene zusammen. Im Rest des Stückes tanzt jeder vereinzelt, für sich. Ein beinahe meditatives Stück. Bildquelle: Heymann Brothers Films .
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Bild 5 von 9. Szene aus «Last Work»: «Es heisst ‹Last Work›, weil es mein letztes Stück sein könnte. So wie die Welt heute ist, ist es immerhin möglich», erklärt Ohad Naharin in dem Film «Mr. Gaga». Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 9. Ohad Naharin in der Schweiz: Das Nederlands Dans Theater mit der Choreografie «Minus 16» in Zürich, anlässlich des Tanzfestivals «Steps». Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 9. Tänzer der Batsheva Dance Company wärmen sich ganz klassisch auf: für die Festlichkeiten anlässlich des 50. Jahrestages der Tanztruppe. Bildquelle: Reuters.
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Bild 8 von 9. Choreograph Ohad Naharin vor den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen der Batsheva Dance Company. Naharin hat in der von der Baronin de Rothschild gegründeten Truppe selbst seine Tanzausbildung begonnen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 9 von 9. Gaga für alle: In Israel pilgern Hundertschaften zum Guru für zeitgenössischen Tanz. In Workshops lernen sie, sich tänzerisch auszudrücken, loszulassen. «Let it go», ist hier oberstes Motto – und einer der Grundsätze von Gaga generell. Bildquelle: Keystone.
Kinostart: 15.9.2016