Es ist ein warmer Sommerabend. Optimale Bedingungen für die Premiere von «Remote Zürich», einem Audiowalk. «Remote Zürich» ist die neuste Produktion von Regisseur Stefan Kaegi vom Regiekollektiv Rimini Protokoll.
Der Treffpunkt für die Zuschauer ist die Neue Börse am Bahnhof Selnau, kein Theater, sondern der reale unveränderte Aussenraum. Dort angekommen erhalten die 50 Teilnehmer einen Empfänger zum Anklemmen und Kopfhörer, sowie die Anweisung ganz selbständig die S-Bahn zu nehmen und 3 Stationen zu fahren, dort würde der Audiowalk losgehen. Versprochen werden zwei Stunden Stadtraumerkundung durch Teile Zürichs, einzig koordiniert durch eine Stimme über Kopfhörer.
Computerstimme Julia hat das Sagen
Nach und nach versammeln sich die Teilnehmer nach der kurzen S-Bahnfahrt auf einer Wiese, die Kopfhörer sind nun auf den Ohren. Dank der Geräuschkulisse über Kopfhörer summen noch mehr Bienen und Mücken als in der Realität - Kühe sind auch zu hören. Ein wahres Idyll zeichnet sich vor den Augen der Zuschauer ab: Der Uetliberg im Gegenlicht der langsam immer tiefersinkenden Sonne. Eine unerwartete Entspannung für Geist und Auge.
Und dann gibt sich die Stimme des Audioguides zu erkennen, sie heisst Julia und erklärt überfreundlich die Spielregeln. Sie will nicht nur leiten, sondern sogar Freundin sein. Und diese Freundin erklärt die Gruppe ab sofort zu einer Horde: «Die Horde, das ist eine Gruppe, die zu gross für eine Familie und zu klein für eine Stadt ist.»
Eine Horde, die sich von diesem Zeitpunkt an ständig überprüft, angeregt durch die Umgebung: Wo laufe ich lang, sind mir die anderen sympathisch, sieht mein Grabstein auch mal so aus, wem mag man die Telefonnummer geben oder wer erkrankt zuerst an Krebs. Solche und noch mehr Fragen, stellt Julia im Laufe der nächsten zwei Stunden in den Raum. Diese sind mal mehr und mal weniger vorhersehbar.
Julia ist eine synthetische Stimme und besticht mit dem abgehackten Charme einer Auto-Navigation. Sie wurde aus 2500 Stimmen generiert, hat kein Gesicht und keine Gefühle, und das erfährt man gleich zu Beginn. Der Versuch, sie sich vorzustellen, sei sinnlos, sagt sie. Sie sei körperlos und nur ein akustisches Signal.
Des Menschen Vertrauen in die Technik
Der Regisseur Stefan Kaegi führt die Anwesenden mit Hilfe von Julia nicht nur durch Zürich, sondern konfrontiert sie mit einem sprechenden Computer in vermeintlicher Frauengestalt. Der Computer testet unser Vertrauen und unsere Mündigkeit. Demokratie ist Julia offenkundig suspekt.
Am stärksten prallen Künstlichkeit und Wirklichkeit auf der grünen Wiese aufeinander. Zum 80er-Jahre Diskosound, gefühlt irgendwo zwischen Kraftwerk und den Weather Girls, machen sich die Teilnehmer des Audiowalks auf den Weg. Fast wähnt man alle Mitstreiter im Gleichschritt.
Julia stösst unablässig Themen an und animiert zu Gedankenspielen: Eine Brücke wird zum Symbol des menschlichen Fortschritts oder wahlweise der Überheblichkeit, die Spuren einer Autobahn zu den Arterien und Venen unserer wohlgeordneten Gesellschaft. Die Frage, was Natur und was geformt ist, stellt sich immer wieder.
Die Horde folgt im Gänsemarsch
Der Parcours des Audiowalks führt die kleine Gemeinschaft von einer Wiese, über einen Friedhof, an die Glassfassade eines Schwimmbades, eine dunkle Treppe hinunter, bis hin zum Theaterspektakel auf der Landiwiese. Von der Ruhe der Natur ins langsam dichter werdende Getümmel der Stadt.
Gelegentlich wird die Horde dabei geteilt und in kleinere sogenannte Herden zerlegt. Jede dieser Herden bekommt zu jeder Zeit das Gefühl suggeriert, in der richtigen Gruppe zu sein. Das Individuum vermutet sich in Sicherheit, auch wenn Julia immer wieder die Vertrauensfrage stellt - ob man ihr, also der Technik glauben könne.
Mehr über «Rimini Protokoll»
Assoziationen an den Film «2001: A Space Odyssee», in dem der Bordcomputer Hal nach und nach das Sagen auf dem Raumschiff übernimmt, kommen zwar auf, doch wirklich bedrohlich wirkt das Szenario in Zürich nie.
Manipulation und Instrumentalisierung
Eine Situation des Audiowalks kommt diesem Szenario ein wenig nahe. Nachdem eine Herde (kleiner Teil der Horde), eine dunkle, feuchte Treppe hinunter und in einer halbleeren unterirdischen Halle zum Stehen kommt, geht plötzlich das Licht aus. Im Dunkeln stelllt Julia wieder die Vertrauensfrage und transformiert sich im gleichen Atemzug zu Klaus.
Aus der überfreundlichen, Nähe heischenden Frauenstimme wird eine toughe, klare Männerstimme. Plötzlich öffnet sich in der Dunkelheit das Rollgitter eines Tores, eine Rampe wird sichtbar und das Tageslicht scheint hinein. Die Herde wird von ihrem neuen Hirten Klaus aufgefordert hinauszugehen, nein hinauszurennen, und prompt machen es alle. Es scheint Spass zu machen, auf die Computerstimme zu hören.
Aus Theaterbesuchern und Besucherinnen ist eine willige Herde geworden. Doch kaum ist die Herde losgerannt, kommen erste Zweifel auf - war sie zu blind? Denn die Rampe wird vom lautstark applaudierenden Rest der Horde gesäumt. Entweder hat Klaus diese rennende Herde vorgeführt oder zu Gewinnern eines fiktiven Laufs gemacht.
Nichts Neues, aber viel Sinnliches
Es sind aber nicht nur solche Momente der Manipulation, die Stefan Kaegis «Remote Zürich» zu einem einnehmenden Erlebnis machen. Es sind auch die feinen, einfachen Momente, in denen die Stadt zur Bühne, ihre Bewohner zu Akteuren und die Busse und Autos Teil einer grossen Choreografie werden, - untermalt mit Streichern fügt sich alles harmonisch zu einem grossen Ganzen.
«Remote Zürich» verführt den Zuschauer den eigenen Gedanken nachzuhängen und sich für einmal dem Versuch hinzugeben, ein funktionierendes, aber dennoch reflektierendes Teilchen einer Gruppe zu sein. Für Ausreisser gibt es kein Szenario, die verlieren lediglich den akustischen Kontakt zu Julia beziehungsweise Klaus.
An der Oberfläche und dennoch eindrücklich
Stefan Kaegi lässt die Wahrnehmung seines Publikums immer wieder zwischen Selbstreflektion und Fremdwahrnehmung hin und her pendeln. Jedoch bleibt das Nachdenken über das Spannungsverhältnis von Mensch und Maschine an der Oberfläche, zu sehr steht das Laufen, Entdecken und Überprüfen im Vordergrund, zu schnell sind die thematischen Wechsel. Trotz vieler Fragen und schneller örtlicher Wechsel, schafft es «Remote Zürich» ein kollektives Erlebnis zu kreieren, nicht zuletzt durch den atmosphärisch dichten Soundtrack von Nikolas Neecke.
Der Audiowalk ist inzwischen in vielen Sparten der Unterhaltung und der Bildung ein gängiges Mittel und daher als blosser Kunstgriff wenig überzeugend. Doch wenn es am Ende von «Remote Zürich» heisst: «Bereit machen zur Auflösung!», dann kommt das Abnehmen der Kopfhörer dem Gang aus dem dunklen Kino auf die Strasse gleich: Draussen ist es zu hell, die Geräusche sind fremd und die Passanten wirken kurzzeitig wie Menschen einer anderen Welt. Ja, es hat funktioniert: Auch wenn die angestossenden Themen etwas Tiefe vermissen lassen, ist dieser Audiowalk kein blosser Bildungsspaziergang: Es ist ein mit allen Sinnen erfahrbares Ereignis.