Frau Jost, als Kind tanzten Sie Ballett und spielten am Berner Stadttheater in Kindermärchen mit. Welchen Stellenwert hatte das Theater für Sie?
Im einengenden Klima der Schweiz der 1960er-Jahre war das Stadttheater Bern wie eine Offenbarung für mich. Ich habe mich vom Zwerg über Eichhörnchen bis zum Rumpelstilzchen und dem Gestiefelten Kater hochgearbeitet. Als Jugendliche spielte ich sowohl in Berns Kellertheatern als auch im Stadttheater Bern kleinere und grössere Rollen.
Und Ihre Eltern?
Diese gingen schon immer gerne ins Theater und unterstützten mich. Meine Mutter war Hausfrau. Sie hatte eine tolle Gesangsstimme. Zuhause sangen wir oft Volkslieder. Ich bin dankbar, dass ich dieses alte Volksgut auf diese Weise mitbekommen habe. Mein Vater war Buchhändler und später Verlagsleiter – ein sehr belesener Mann. Er konnte wunderbar zitieren. Ich wuchs mit Thomas Mann, Rilke und Goethe auf und liebte es, Gedichte aufzusagen. Mein Bruder Heinz Jost war Grafiker und Opernfan. Er ist 10 Jahre älter und arbeitete damals als Theatermaler am Stadttheater Bern, wohin er mich ab und zu mitnahm. Der Geruch von Leim und Farbe, interessante Gespräche, Kostüme und Musik – diese Atmosphäre faszinierte mich.
Und dieser verfielen Sie, wie es scheint. Was war der nächste Schritt, wo liessen sie sich ausbilden?
Eine staatliche Schauspielschule gab es in Bern damals keine. Diese wurde erst einige Jahre später gegründet. Meine Ausbildung habe ich mir selber zusammengestellt: Nach dem Ballettunterricht lernte ich bei Alain Bernard Jazz- und Musicaltanz, nahm Gesangstunden, absolvierte eine Sprecherziehung und Rollenstudium.
Zudem besuchte ich eine Fortbildungsschule, wo ich mich nebst den Fächern Kunst- und Literaturgeschichte in den Sprachen Englisch, Französisch und Italienisch weiterbilden konnte. Gute Sprachkenntnisse sind für den Beruf sehr wichtig. Gleichzeitig habe ich – wann immer möglich – Theater gespielt. Mein Interesse galt der Zusammenarbeit am Stück mit dem ganzen Team, um dem Geheimnis und dem Zauber des Theaters in allen Facetten näherzukommen. Berühmt zu werden war nie meine Absicht.
Und wurden Sie dafür bezahlt? Wovon lebten Sie?
Ja, für meine Auftritte bei den Märchen und in anderen Stücken gab es kleine Gagen. Damals lebte ich noch zu Hause. Nebenbei musste ich jobben: In der Buchhandlung Stauffacher in Bern habe ich Taschenbücher verkauft und in Zürich im Musikgeschäft Jecklin Schallplatten – so war ich auch bei dieser Arbeit mit Dingen beschäftigt, die mich interessierten.
Doch der eigentliche Weg begann erst nach der Ausbildung. Ich nahm an einer Bühnenprüfung teil, zu der Intendanten von deutschen und Schweizer Stadttheatern zusammenkamen und angehende Schauspieler und Schauspielerinnen zum Vorsprechen einluden. Da erhielt ich das Zeugnis «zum Engagement empfohlen». Mit diesem begann ich vorzusprechen – und kam auf die Welt! Ich reiste bis nach Bremerhaven, wo man mir mitteilte, ich hätte einen Sprachfehler beim «s».
Wie gingen Sie mit diesen ersten Rückschlägen um?
Als Schauspielerin sind grosses Durchhaltevermögen, absoluter Wille und Leidenschaft gefragt, sonst sollte man es sein lassen. Ich hörte von einer Vakanz am Stadttheater St.Gallen. Ich sprach vor und wurde engagiert – als «Munter-Naive». Damals gab es Typenbezeichnungen: die Sentimentale, die jugendliche Heldin, etc. Das war im Jahr 1966. Ich begann mit einem monatlichen Lohn von 630 Franken und hatte eine kleine, günstige Wohnung. Wir hatten einen wunderbaren Zusammenhalt im Ensemble. Ich war glücklich.
Meine Arbeit am Theater war vielseitig und machte Spass. Man konnte mich überall einsetzen: von Ballettabenden über Rollen als Marie in «Woyzeck», von Büchner bis hin zu «My Fair Lady». Mit wachsender Erfahrung stieg ich auf und damit auch mein Lohn – auf 730 Franken. Sechs Jahre war ich da. Während der Sommersaison haben wir alle Stücke nochmals in Baden aufgeführt. Zuletzt spielte ich in einem Jahr in sieben Stücken. Mit 28 fühlte ich mich etwas ausgebrannt.
Wie fanden Sie aus dieser Krise?
Ich machte mich auf zu neuen Ufern. Ich habe mich vom Stadttheater verabschiedet, nicht aber vom Beruf. Als freischaffende Schauspielerin war ich lange Zeit mit einem Tucholsky-Programm unterwegs, war Gast an verschiedensten Theatern in Deutschland und der Schweiz und erhielt Filmrollen, unter anderem als Sozialarbeiterin in «Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner» und als Tessinerin in «Die Schweizermacher». Zudem war ich an Hörspielen beteiligt und spielte an diversen Freilichttheatern.
Oft hatte ich das Glück, für Rollen direkt angefragt zu werden. So auch bei der Fernsehserie «Motel», wo ich die Rolle der Gouvernante übernahm. Allerdings ging da ein Medienhype los, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Dennoch habe mich nie vereinnahmen lassen.
Und heute?
Seit 20 Jahren trete ich mit meinem Mann, dem Autor, Regisseur und Schauspieler Andreas Berger in gemeinsamen Theaterproduktionen auf. Das ist das Tolle an diesem Beruf: Man kann so lange weiter machen, wie man die Kraft dafür hat.