«Theaterzerstörung», donnerte ein Kritiker der Frankfurter Allgemeinen. Der Wert der Kultur werde beschädigt, meinte der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats. Dabei hatte der Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner lediglich darüber nachgedacht, Theater- und Opernaufführungen per Live-Stream im Internet kostenlos zugängig zu machen. Das sei schon aus urheberrechtlichen Gründen unmöglich, tönten die Bedenkenträger.
Am Urheberrecht soll es nicht liegen
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Daher sass bei der von der Heinrich-Böll-Stiftung initiierten Diskussion auch Nils Tabert mit am Tisch, der Leiter des Rowohlt Theaterverlags. Seiner Meinung nach ist die Urheberrechtsvergütung kein gravierendes Problem. Und so wurde der Debatte in der Heinrich-Böll-Stiftung gleich am Anfang die Spitze abgebrochen. Unter den versammelten Kritikern, Autoren und Intendanten fand sich niemand mehr, der das Streamen von Theateraufführungen generell in Frage stellen wollte.
Der Nutzen wurde mit Hilfe eines praktischen Beispiels demonstriert: Kay Voges hatte seine Inszenierung des Sarah-Kane-Stücks «4 Uhr 48. Psychose», die zeitgleich mit der Berliner Diskussion in Dortmund aufgeführt wurde, für den Live-Stream eingerichtet. Der Text legt Ort Zeit und Handlung nicht genau fest. Es geht um den Gedankenstrom eines unglücklichen Menschen.
Der Live-Stream während der Diskussion
«Um 4 Uhr 48, wenn die Verzweiflung über mich kommt, werde ich mich aufhängen», tönt es einem mit Gaze bespannten Kasten. Dort hat Kay Voges drei Darsteller untergebracht, die abwechselnd den Text sprechen. Da medizinische Daten auf die Gazewände projiziert werden, sieht man sie kaum.
Ihre Körper verschwinden hinter Krankenakten – ein eindrucksvolles Bild, das auch im Live-Stream sehr gut zur Geltung kam. Andere Aufnahmen zeigten die Schauspieler von oben, aus einer Perspektive, die die Zuschauer im echten Theater gar einnehmen konnten.
«Der Live-Stream soll nicht einfach nur das Bühnengeschehen widerspiegeln», sagt der Regisseur. «Er soll neue Einblicke vermitteln und vielleicht auch ein interaktives Spiel ermöglichen.» Voges denkt darüber nach, Kommentare, die im Internet zur Inszenierung abgegeben werden, noch während der Vorstellung auf die Bühne zu projizieren.
Streaming bietet ganz andere Vorteile
Streaming kann zu neuen Erzählweisen im Theater führen. Den Besuch im Theater ersetzen kann es jedoch nicht. Bei der Veranstaltung in der Böll-Stiftung gab es Stuhlreihen, die wie im echten Theater aufgestellt waren, und es gab ein erwartungsfrohes Publikum. Und trotzdem stellte sich keine Theateratmosphäre ein.
Eine Leinwand schaut man anders an als einen lebendigen Darsteller – man hat die Sinne nicht geschärft, weil man nicht damit rechnen muss, dass ausserhalb der Leinwand etwas passiert.
Das Theater Ulm macht gute Erfahrungen
Und trotzdem sind Video-Streams für Menschen, die nicht ins Theater kommen können, ein spannendes Angebot. Das Theater Ulm überträgt seit zwei Jahren Aufführungen live ins Internet.
Mit Erfolg, wie der leitende Schauspieldramaturg Daniel Grünauer betont: «Wir haben 800 Sitzplätze im grossen Haus. Und wenn man bedenkt, dass gleichzeitig beim letzten Stream von «Kabale und Liebe» 1000 Zugriffe stattfanden, dann ist das eine Verdopplung unserer Zuschauerzahlen.»
Theater im Blickfeld der Öffentlichkeit
Die Streams werden kostenlos angeboten, führen beim Theater also erst einmal nicht zu neuen Einnahmen. Doch es zeichnet sich ab, dass sich Streaming anders rentiert. Menschen, die den Stream gesehen haben, kommen später ins Theater, um die Aufführungen in echt zu besuchen.
Ausserdem löst der Stream Debatten aus. Es gibt die Möglichkeit, Kommentare zu hinterlassen, die für jeden sichtbar sind. Das Theater rückt stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit.
Fazit: Streaming muss sein
In der Schweiz gab es bisher nur wenige Versuche, Aufführungen ins Internet zu übertragen. Das Theater am Neumarkt übertrug in der letzten Spielzeit ihre «Syn City»- Inszenierungen live im Netz – jedoch mit der Hilfe von Studierenden der Zürcher Hochschule der Künste.
Für das Schauspielhaus Zürich kommt ein Live-Stream gerade nicht im Frage. Vor allem die Kosten sprächen dagegen, sagt Sebastian Steinle von der Medienstelle des Schauspielhauses Zürich. Streaming könne den Theaterbesuch nicht ersetzen, betont Michael Bellgardt, der Pressesprecher des Theaters Basel.
Bei der Diskussion in Berlin wurde eines sonnenklar: Streaming muss sein – nicht um das echte Theater zu ersetzen, sondern um es zu ergänzen und sichtbarer zu machen.
Sendung: Kultur aktuell, Radio SRF 2 Kultur, 16.12.2014, 7.10 Uhr