Es klingt verlockend: Der «interaktive Film» vermischt das Beste aus Videogame und Kinofilm. Er bietet dem Zuschauer die Emotionalität, Spannung und erzählerische Raffinesse eines Spielfilms und lässt ihn gleichzeitig aktiv am Geschehen teilhaben.
Schon seit den 1980er-Jahren gibt es Experimente, die dieses Ziel anstreben. Nur: Statt das Beste aus Videogame und Spielfilm zu vereinen, fallen interaktive Filme oft zwischen Stühle und Bänke.
Denn Film und Game funktionieren nach unterschiedlichen Logiken, und es ist nicht leicht, diese unter einen Hut zu bringen. Lässt man den Zuschauer zu stark über die Filmhandlung bestimmen, gibt man die Dramaturgie aus der Hand. Gewährt man dem Zuschauer weniger Einfluss, leidet das Game.
Ein internationaler Thriller aus der Schweiz
Deutlich mehr Film als Game ist «Late Shift», ein interaktiver Thriller aus der Schweiz. Erhältlich ist er als App für iPhone und iPad. Dem Zuschauer werden immer wieder verschiedene Optionen vorgelegt, wie die Handlung weitergehen soll. Soll die Hauptfigur jemandem helfen oder nicht? In ein Auto einsteigen oder davonrennen? 180 Mal muss der Zuschauer bei «Late Shift» eine solche Entscheidung fällen, indem er auf den entsprechenden Button tippt.
Völlig neu ist das nicht. Interessant ist «Late Shift» aber aus zwei Gründen. Zum einen wenden die Macher das schwierige Konzept des interaktiven Films richtig gut an.
Die filmische Qualität stimmt, «Late Shift» ist ein schwungvoller Einbruch-Thriller mit coolem Look und guten Darstellern. Die schweizerisch-britische Koproduktion richtet sich an ein internationales Publikum. Es wird englisch gesprochen, die Rollen sind international besetzt – als einziger Schweizer hat Joel Basman einen kurzen Auftritt.
Der Zuschauer unter Zeitdruck
Nicht alle Entscheidungen haben weitreichende Konsequenzen. Aber die Handlung kann durchaus einen anderen Lauf nehmen. «Late Shift» besteht aus 4 Stunden Filmmaterial, je nach Entscheidung dauert der Film 60 bis 85 Minuten.
Beeindruckend an «Late Shift» ist, wie flüssig die Entscheidungen im Film untergebracht sind, es entstehen nie störende Unterbrüche. Dafür muss der Zuschauer ziemlich auf Zack sein: Ihm bleiben jeweils nur wenige Sekunden, um auf einen der angezeigten Buttons zu tippen.
Vom Smartphone auf die Leinwand
Zweitens ist «Late Shift» deshalb bemerkenswert, weil es den Machern gelungen ist, ihr Projekt ins Kino zu bringen. Dank einem eigens entwickelten System können die Zuschauer in einem Kinosaal gemeinsam über die Handlung bestimmen.
Auch hierfür gibt es eine App, mit der an den 180 Entscheidungspunkten abgestimmt werden kann.
Demokratie im Kinosaal
Das funktioniert ausgezeichnet, der einzelne Zuschauer verliert aber seine Entscheidungsmacht. Denn nun bestimmt das gesamte Saalpublikum basisdemokratisch, wie es weitergeht. Das bedeutet, dass der Film auch mal anders verläuft, als man das selbst gewollt hätte.
Unweigerlich taucht die Frage auf, was bei einer anderen Entscheidung passiert wäre. Wer den Film in der App schaut, kann zurückgehen und die Szene nochmals durchspielen. Der Kinozuschauer bleibt mit dieser Frage sitzen.
«Late Shift» ist ein Experiment. Er tastet noch die Möglichkeiten des Formats ab. Der interaktive Film stellt ganz andere Anforderungen an das Drehbuch, an den Schnitt und auch an die Schauspieler. Das Schweizer Start-up «Ctrlmovie» meistert gleich im ersten Film vieles sehr gut: «Late Shift» ist durchdacht und hat immer wieder Überraschungen zu bieten.
Die interaktive Komponente bleibt im Kinosaal jedoch weitgehend ein Gimmick. Die Technologie hat das Potenzial für ein unterhaltsames Kinoerlebnis, dennoch wird es auch in Zukunft im Kino in den meisten Fällen heissen: «Der Film beginnt gleich, bitte schalten Sie das Handy aus».