Das Wechselbad der Gefühle. Es ist eine abgestumpfte Metapher. Aber sie passt perfekt zu Xavier Dolans neuen Film. Mit «Mommy» hat der kanadische Jungregisseur einen Film geschaffen, der einem emotional einiges abverlangt.
Link zum Thema
Ein Schlachtruf gegen Skeptiker
«Mommy» spielt in der nahen Zukunft, im Jahr 2015. In Kanada wurde ein neues Gesetz erlassen. Es erlaubt überforderten Eltern, schwierige Kinder in geschlossene, psychiatrische Besserungsanstalten zu überweisen.
Steve ist so ein schwieriges Kind, er ist hyperaktiv und gewalttätig. Er lebt im Jugendheim – bis er die Cafeteria in Brand steckt. Er wird des Heims verwiesen. Seine Mutter Diane, genannt «Die», will sich fortan selbst um den ausser Rand und Band geratenen Racker kümmern. «Nur weil man jemanden liebt, kann man ihn nicht retten», gibt ihr die Heimleiterin zum Abschied mit auf den Weg. «Die Skeptiker werden verblüfft sein», entgegnet Die.
Doch kaum zu Hause angekommen, macht Steve Probleme. Diane bittet die Nachbarin, eine biedere und stotternde Lehrerin, um Hilfe. Sie akzeptiert. Die Zähmung des Widerspenstigen beginnt. Zwei Stunden, in denen man als Zuschauer mitlacht und mitleidet – als wäre man Teil dieses Schicksalstrios.
Was nicht passt, wird passend gemacht
Gedreht ist der Film im ungewöhnlichen quadratischen 1:1-Format. Willkür oder reine Spielerei, mag man zu Beginn des Films denken. Und doch wäre es kein Film aus dem Hause Dolan, wenn die Form zufällig wäre: «Ich wollte die Menschen im Mittelpunkt haben. Und ich wollte Publikum dazu zwingen, den Figuren direkt ins Auge zu blicken», erklärt Dolan.
Und es bleibt nicht beim 1:1-Format. Dolan ändert es je nach Gemütszustand der Figuren. Und mit diesem feinen technischen Griff schafft er es – ohne zu viel vorweg zu nehmen – das Gefühl der Freiheit so schön auszudrücken, wie es nur ein talentierter Filmemacher kann.
Aus alt macht neu
In gewissen Dingen bleibt der Kanadier jedoch konservativ. Zum Beispiel bei den Schauspielern. Anne Dorval, in «Mommy» die Mutter Die, spielt in vier seiner fünf Filme mit. Suzanne Clément, hier in der Rolle der Nachbarin, war schon in drei seiner Filme zu sehen. Und auch Antoine Olivier Pilon, der schwererziehbare Junge, taucht immer wieder in Dolans Werk auf.
Übel nehmen kann man Dolan dies nicht. Clément, Dorval und Pilon überzeugen auch in «Mommy». Ob Wut, Trauer oder Freude: Die Gefühle der Figuren wirken echt. Und besonders Anne Dorval könnte die innere Zerrissenheit zwischen Mutterliebe und Ohnmacht gegenüber der Krankheit ihres Sohnes nicht besser zum Ausdruck bringen.
Kaugummi-Pop zu ästhetischen Bildern
«Mommy» ist ein Feuerwerk. Dolan lässt die Emotionen hochgehen. Er setzt seine Figuren bewusst in Szene und treibt es in manchen Szenen mit der Ästhetik auf die Spitze. Das Ganze toppt er mit einem kaugummi-poppigen Soundtrack – Celine Dions «On ne change pas» inklusive – den man sich an gewissen Stellen wegwünscht. Aber: Als Zuschauer wird man immer wieder auf den harten Boden der Realität zurückgeworfen. Das ist wohl das wahre Verdienst von Dolan.