Der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862) schrieb mit «Walden» eine Mischung aus dokumentarischem Bericht, eine Streitschrift und eine Anleitung zur Lebensgestaltung. Damit lieferte er kommenden Weltveränderern den philosophischen Unterbau. Gandhi, Naturschützer und Hippies sahen ihn ihm einen Seelenverwandten.
Das Mark des Lebens aufsaugen
Zitate wie «Der Himmel ist genauso unter unseren Füssen wie über unserem Kopf», beflügelte nicht nur die Blumenkinder in San Francisco. Die Entstehungsgeschichte von «Walden» macht so richtig Lust, es dem Verfasser gleichzutun: Während sechsundzwanzig Monaten lebte Thoreau in einer einfachen Hütte, neben dem Walden Pond, einem kleinen See irgendwo in Massachussetts – angeblich fernab von der Zivilisation. «Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war», so der Autor.
«Walden» ist der dort entstandene Erfahrungsbericht. Thoreau beschreibt unter anderem, wie nah an der Natur, den Elementen und Jahreszeiten er in seiner Hütte gelebt haben will. Diese wunderschönen Passagen tauchen nach wie vor bei Naturkalendern oder in High-School-Lesebüchern auf.
Die totale Askese
Doch Thoreau hatte mit «Walden» wesentlich mehr im Sinn als späteren Liebhabern von «Cabin-Porn» kuschelig-feuchte Träume zu bereiten. Was der Autor nämlich mit anderen sperrigen Grössen der Weltliteratur gemeinsam hat (Gotthelf, Joyce etc.): Kaum jemand hat sie wirklich gelesen oder wenn doch, dann nur selektiv.
So dürfte Thoreau ob der Verehrung durch die Hippies im Grab rotiert haben. Er war zwar Pazifist, neben der Liebe zu Blümchen hätte er kaum weitere Gemeinsamkeiten mit seinen Verehrern eingeräumt. Denn Thoreau predigte neben der Nähe zur Natur auch die totale Askese. Er fand Salz im Essen daneben, Kaffee hasste er. Wie hätte er da wohl über LSD- und Marihuana-Konsum geurteilt? In «Walden» mied Thoreau menschlichen Kontakt, pfiff auf Freundschaft und Nächstenliebe. Und was Musik anging, so war er ähnlich tolerant wie die Taliban. Deren berauschende Wirkung habe ja zum Untergang des römischen Reiches beigetragen, fand er.
Thoreau hätte Freude an der «Bestatter»-Figur gehabt
Neben Thoreau wirke der Dalai Lama so dekadent wie die Kardashian-Familie – so stand es kürzlich in einem furios geschriebenen «New Yorker»-Artikel. Autorin Kathryn Schulz wies darauf hin, dass der Säulenheilige Thoreau in der Realität nicht eine solche Spassbremse war, wie er sich in «Walden» gerierte. So spazierte er mehrere Male pro Woche von seinem gar nicht so zivilisationsfernen Hüttchen am See ins nahgelegene Concorde. Dort dinierte er mit Freunden, genehmigte sich das eine oder andere Gläschen.
Auch Einsiedler Schwarzkittel lebt nicht nach der reinen Lehre. In einem Punkt hätte Thoreau aber helle Freude an der «Bestatter»-Figur gehabt: Als die Morgenthaler Schwarzkittels Hütte niederreissen, lässt dieser seinen Kopf nicht hängen. Er schnappt sich seinen Rucksack und zieht weiter in die Wildnis hinein – halt bloss die im Aargau, aber immerhin.