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Film & Serien Margrit Rainer war ein liebevolles Muetti und Horrormama zugleich

Margrit Rainer ist und bleibt die Mutter der Nation, auch heute, 100 Jahre nach ihrer Geburt. Auf Boulevardbühnen erreichte sie alles und noch mehr – doch hätte man ihr mehr Vorlagen gegönnt, die ihrem Talent entsprachen. Eine Meisterleistung lieferte sie in ihren Chansons.

Im heimischen Kino konnte sie sich nie wirklich durchsetzen. Aber auf hiesigen Boulevardbühnen war Margrit Rainer während einem guten Vierteljahrhundert bis zum frühen Tod am 10. Februar 1982 die unbestrittene Leading Lady. Neben ihrem Filmpartner Ruedi Walter verkörperte sie zahlreiche Hauptrollen – vor allem in Komödien.

Über Inigo Gallo, den Lebenspartner von Margrit Rainer hiess es oft, er sei im Schatten des Duos gestanden. Dabei vergisst man, dass er nicht nur ein hervorragender Darsteller war, sondern als Bearbeiter und Regisseur viel zum Funktionieren ihrer Komödien und Volksstücke beitrug. So in «D’Muetter wott nur s’Bescht».

Die Rolle ihres Lebens

Wenn man die heute noch auf Video greifbaren Fernseh- und Hörspiele, Theaterstücke oder Kinofilme als repräsentativ für ihr ganzes Leben erachtet, war «Anni Wiesner» die Rolle ihres Lebens. Ihre Anni ist ein liebevolles und lebenspraktisches Müetti. Aber auch eine Horrormama, die mit ihren Erwartungen soviel Druck auf ihre Liebsten ausübt, dass diese mit suizidalen Reflexen in den Medikamentenschrank greifen ... und Abführtabletten erwischen.

Rapide Stimmungsumschwünge sind beim Volkstheaterstück systemimmanent. Gerade wollte sich der Vater noch das Leben nehmen, jetzt sitzt er schon wieder mit der Mutter am Tisch und schwelgt in Erinnerungen. Eigentlich unglaubwürdig. Doch Margrit Rainer und Ruedi Walter transzendieren jegliche papierne Plotmechanik und zelebrieren eine Natürlichkeit und Vertrautheit, nach der sich jeder im Publikum sehnt.

Sie verdiente soviel wie Sekretärin

Sendungshinweise

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SRF 1 zeigt folgende Filme zum 100. Geburtstag von Margrit Rainer:

  • «Spalebärg 77a»: Samstag, 8. Februar 2014, 14.55 Uhr
  • «Polizischt Wäckerli»: Samstag, 8. Februar 2014, 15.20 Uhr
  • «Margrit Rainer: D’Liebi macht eim riich» – Eine Hommage zum 100. Geburtstag: Sonntag, 9. Februar 2014, 15.35 Uhr
  • «Oberstadtgass»: Freitag, 14. Februar 2014, 00.05 Uhr

Man weiss von Ruedi Walter, dass er mit der Bezeichnung Volksschauspieler immer wieder haderte. Auftritte in anspruchsvollen Stücken zeigen deutlich, dass er sich von diesem Etikett zu befreien versuchte. Ein solcher Bruch fand bei Margrit Rainer nicht mehr statt. Dafür starb sie zu früh. Auf Boulevardbühnen erreichte sie alles und noch mehr. Aber wie schön wäre es beispielsweise gewesen, sie in einer der grossen Dürrenmatt-Rollen zu sehen, als Claire Zachanassian oder Fräulein Mathilde von Zahnd.

Sie verdiene ungefähr soviel wie eine Direktionssekretärin, verriet Margrit Rainer einmal in einem ihrer seltenen Interviews. Das war peinlich wenig im Vergleich zu ausländischen Stars, aber auf jeden Fall mehr als ausreichend zum Leben. Doch die populärste Volksschauspielerin des Landes quälten dieselben Existenzängste, wie sie für die nicht subventionierte Boulevardszene typisch waren und wohl immer noch sind. Die Produktionsfrequenz war deshalb hoch, der Druck auf einheimische Autoren zu liefern entsprechend ebenso und die daraus resultierenden Texte waren qualitativ durchzogen.

Paradebeispiel «Niederdorfoper»

Meisterleistungen gab es trotzdem. Paradebeispiel war und ist immer noch «Die Kleine Niederdorfoper». Und zwar nicht als Stück an sich: Die Erzählstruktur ist zähflüssig, der Inhalt unoriginell. Aber sie ist hin- und mitreissend als Ansammlung von Gassenhauern und Balladen. Für einen Boulevardschauspieler war es das höchste der Gefühle sagen zu können: «Ich han es Chanson gha i dr Niederdorfopere».

Diese grandiosen Deutschschweizer Chansons konnten entstehen, weil die kreativsten Köpfe des Landes ihre Kräfte bündelten. Sie lieferten Margrit Rainer endlich das, was ihr auf der Bühne oder im Kino nicht vergönnt war, nämlich Vorlagen die ihrem Talent entsprachen. Ihre Gesangstechnik war dürftig, ihre Interpretationen trotzdem unübertroffen: Emotionalität, gepaart mit Zurückhaltung sorgen dafür, dass inhaltliche Raffinesse nicht verlorengeht – im Gegenteil: Margrit Rainer bringt sie erst richtig zur Geltung.

Die Heldin ist resigniert

Die Schauspielerin Margrit Rainer und ihr Schauspieler-Kollege Ruedi Walter sitzen nebeneinander in einem Café.
Legende: Margrit Rainer und ihr Schauspiel-Partner Ruedi Walter in einem Café (undatierte Aufnahme). Keystone

Beispielhaft etwa im «Helvetischen Wiegenlied» (Wollenberger/Dumont). In vier Strophen erklärt eine Mutter ihrem Kleinkind die Welt, ihre lieblose Ehe « ... statt das er mich uf Hände träit, hilft er mir nümm in Mantel». Und was in der dritten Strophe mit Zukunftsträumereien für das Söhnchen beginnt, schliesst mit einem zärtlich vorgetragenen, aber vernichtend gemeinten Urteil: «verschprich mir eis, wie’s dir au gaht, Bueb, wird nöd wie din Bappe».

Die Heldin ist resigniert: Ihre Ehe ist nicht mehr zu retten, muss aber ausgehalten werden. Dem Sohn aber will sie alles ermöglichen, sanft unterfüttert mit einer subversiven Botschaft.

Margrit Rainer ist und bleibt die «Mutter der Nation». Die strahlende und warmherzige Variante zum Gernhaben. Sie ist aber auch die Frau aus «Helvetisches Wiegenlied». Komplex, düster und gebrochen. Nur mit dieser Doppeldeutigkeit wird man ihr gerecht.

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